Das „Müller“-Jubiläum

08.05.2013 - R.KNOLL

DEUTSCHLAND (Sendelbach) - Am 18. Mai steht in Sendelbach bei Lohr am Main eine deutsche Rebsorte im Mittelpunkt, die mal mit Abstand führend war. Für den Müller-Thurgau wird ein Gedenkstein enthüllt, weil hier im Frühjahr 1913 die ersten Reben dieser Sorte auf deutschem Boden gepflanzt wurden.

 

100 Jahre später ist die Rebe deutlich weniger gelitten als zwischen 1964 und 1978, als sie in Deutschland einen gewaltigen Flächenzuwachs von knapp über 14 000 auf mehr als 24 600 Hektar erlebte und einen Flächenanteil von 27 Prozent hatte. Inzwischen ist der „Müller“ wieder auf den Stand von 1964 geschrumpft, hat aber in Franken nach wie vor zumindest flächenmäßig mit einem Anteil von 29 Prozent noch viel Bedeutung. Doch so richtig stolz sind die fränkischen Winzer nicht auf ihre Brotsorte, nur selten ist sie bei Präsentationen dabei. Lediglich in der süffigen Serie „Frank & Frei“ wird sie als Wein für jeden Tag geachtet, ebenso unter dem Synonym Rivaner, das eigentlich nicht mehr zulässig ist, genauso wie die in der Schweiz noch übliche Bezeichnung Riesling-Silvaner.

Denn die einstige Vermutung, dass Riesling und Silvaner die beiden „Eltern“ sind, wurde bei gentechnischen Untersuchungen korrigiert. Riesling war zwar im Spiel, aber der zweite Elternteil stellte sich nach einem falschen Verdacht (Gutedel) als Madelaine Royal heraus, eine Tafeltraube.

Das Jubiläum „100 Jahre Müller-Thurgau in Franken“ hat natürlich eine Vorgeschichte. Die Geburt der Rebe fand im Jahr 1882 statt. Damals kreuzte der 1850 als Sohn eines Bäckermeisters geborene Schweizer Hermann Müller aus dem Kanton Thurgau, der ab 1876 im botanisch-physiologischen Institut auf der Forschungsanstalt Geisenheim im Rheingau wirkte, eine neue Sorte, die zunächst die Bezeichnung „Sämling 58“ bekam. Als er 1890 in die Heimat zurückkehrte und die Leitung der Forschungsanstalt Wädenswil übernahm, machte er noch Freilandversuche mit seinem „Kind“, die ihn aber nicht zufriedenstellten.

Anders sah es der mit Müller in Geisenheim tätige und mit ihm in die Schweiz gewechselte Weinbautechniker Heinrich Schellenberg. Er glaubte an den Wert der Sorte, verfolgte die Zucht weiter, konnte aber mit dem ersten Wein des Jahrgangs 1906 den Züchtervater nicht von der Zukunft der Rebe überzeugen.

Trotzdem hatte sie ihre Befürworter. Der Königliche Weinbauinspektor Dr. August Dern holte sich 1913 etwa hundert Stöcke aus der Schweiz und pflanzte den grössten Teil davon in Sendelbach in einer Versuchsanlage, die sich ausserhalb der offiziellen Weinbauregionen befand (eine Massnahme gegen die damalige Reblaus-Problematik). Auf diesem Boden wird demnächst der Gedenkstein enthüllt. Reben stehen hier längst nicht mehr.

Die Sorte, von Dr. August Dern keck und gegen den Willen des Züchters Müller-Thurgau genannt, brauchte ein Weilchen, bis sie sich im Fränkischen etablierte. Zwei Relikte aus dem Pflanzjahr 1925 sind geblieben, nämlich kleine, schwer zu bewirtschaftende Areale in Retzstadt (von ambitionierten Jungwinzern betreut, von Winzer Rudolf May im Glasballon ausgebaut) und im Würzburger Schlossberg (Staatlicher Hofkeller). Die jeweiligen Erträge sind zum Weinen, nicht aber die Weine selbst. Der 2012er aus der May-Vinifikation, von dem nur 60 Liter auf den sechs Ar geerntet wurden, ist ein saftiger, verspielter Tropfen, der nicht offiziell verkauft wird. Die Anlage wurde 2011 unter Regie von Reinhold Full, dem Vorsitzenden des Retzstadter Weinbauvereins, neu belebt. Seine Zielsetzung ist es, „den alten Typus aus den Reben herauszukitzeln.“ Rudolf May lobt „die sehr aromatischen Beeren“.

Die 0,3 Hektar im Würzburger Schlossberg stehen derzeit zur Diskussion. Weil es ebenfalls keinen nennenswerten Ertrag gibt, überlegt man im Staatlichen Hofkeller, die Stöcke auszuhacken. Aber 2012 wuchs hier ein prächtiger Kabinettwein heran, der Gutsdirektor Michael Jansen hoffentlich doch davon überzeugen kann, dass es eine Sünde wäre, die 88 Jahre alte Anlage aufzugeben.

Frankens Weinbauberater Hermann Mengler hat schon gegen diesen Plan opponiert. Er ist generell ein Befürworter der Sorte, bezeichnet sie als „unkompliziert im An- und Ausbau“ und attestiert ihr, wenn sie gut gemacht ist, „eine spielerische, leicht belebende Geschmacksrichtung mit fruchtbetonter Saftigkeit oder kräuteriger Würzigkeit. Es gibt auch kräftige Spätlesen mit Lagerpotenzial. Dieses kann sogar überraschend sein.

Die Castell’sche Domäne hat noch eine 1971er Spätlese aus der Lage Casteller Bausch im Verkauf, die bei einer Verkostung vor einigen Wochen nur einen Hauch Reife zeigte und eine feine Würze mit fruchtigen Nuancen (Passionsfrucht, Mandarine) schmecken ließ (35 Euro ab Gut). Das Iphöfer Weingut Wirsching präsentierte bei dieser Probe sogar einen nach Bitterschokolade duftenden, immer noch straffen, komplexen 1967er aus der Schatzkammer, dem man bei einer Blindprobe nie ins Fach Müller-Thurgau gesteckt hätte. Andere Spezialisten für hochwertige Weine sind in Franken zum Beispiel die beiden Escherndorfer Horst Sauer und Rainer Sauer und in Baden der Malterdinger Bernhard Huber.