Wer hat Schuld an der Verrücktheit von Weinliebhabern?

12.08.2016 - M.KRAMER

USA (New York) – Ein offener Brief an alle Weinliebhaber … so tituliert Matt Kramer, ein weit über die USA bekannter Weinkritiker und Weinschreiber, seinen jüngsten Beitrag im Rahmen seines Anspruches, Weinliebhaber an ein adäquates Weinleben heranzuführen, und fährt fort: Ich berichte von einer wahren Begebenheit und stelle dazu die Frage: Haben wir Weinkritiker und Weinschreiber Schuld daran, dass sich normale Menschen zu Weinverrückten entwickeln? Urteilen Sie selbst … 

 

… ich traf meinen Nachbarn erstmals bei einer Fernsehübertragung eines Basketball-Spiels, zu dem er und seine Frau mich einluden, kurz, nachdem beide in meine Nähe umgezogen waren. Mein Nachbar hatte kein Interesse an Wein, umso mehr floss das Bier durch seine Kehle. Er trank nur Wein, um seiner Frau einen Gefallen zu tun, die wiederum nur Rosé mochte. Der Umzug in meine Nähe und die freundliche Einladung der Beiden war wohl ein Urfehler. Ich bin mir sicher, dass beide dies irgendwann wohl bitter bereuen.

"Also ich verstehe, dass Du über Wein schreibst", sagte mein Nachbar leutselig bei unserem ersten Treffen. Ich ließ seine Feststellung unbeantwortet, schreibe ich doch schon mein ganzes Leben über Wein und was sollte ich auch dazu sagen? "Über Weinschreiber weiß ich nicht viel, aber wenn Du irgendwelche Tipps hast, höre ich gerne zu", sagte mein Nachbar in fröhlicher Bierlaune. Nun, ich hatte wirklich nicht vor, diesen Typen in einen Weinliebhaber zu verwandeln, aber das ist es, was passiert ist. Es folgte im Laufe der Jahre eine Transformation meines Nachbarn von einem Biertrinker zu einem verrückten Weinliebhaber und ich frage mich heute, ob dies einem vorhersehbaren Muster geschuldet war?

Nicht lange, nachdem ich meinem Nachbarn einige gute Weine zu fairen Preisen empfohlen hatte, die er auch gekauft und genossen hatte, hörte ich von ihm, wie er sein Weinerlebnis in einem Restaurant mir gegenüber beklagte. "Wir waren gestern in diesem Restaurant und hatten einen Chianti, der nicht annähernd so gut war, wie der, den du uns empfohlen hast. Und stelle Dir vor, die wollten den dreifachen Preis gegenüber dem von Dir empfohlenen Wein haben".

Im Laufe der Monate und Jahre häuften sich diese Berichte meines Nachbarn, erlebt in verschiedenen Restaurants unserer Stadt sowie auf seinen Reisen. Damit reihte sich mein Nachbar ein in die Phalanx der enttäuschten Konsumenten in Bezug zu den Weinangeboten der Gastronomie. Die unzureichende Auswahl an Produzenten und Weinqualitäten, die es in die Weinkarten vieler Restaurants schaffen – das gilt weltweit – begründen die Frustration der Gäste. "Sie führten keinen Menica* auf der Weinkarte", war so ein typischer Bericht meines Nachbarn. "Ich meine, wie kann eine gut sortierte Weinkarte keinen Bierzo* oder Ribeira Sacra* listen?"

Auch die mehrfachen Aufenthalte meines Nachbarn im Napa Valley und Sonoma County mussten wohl Weinreisen gewesen sein, denn immer nach Rückkehr hielten UPS-Fahrer vor seiner Tür, die Weinpakete mit teils teuren Cabernet und Pinot Noir lieferten. "Wir haben da einen winzigen Produzenten entdeckt und es geschafft, seine Weine in unserem Lieblingsrestaurant unterzubringen", berichtete mir voller Stolz mein Nachbar, der wohl auf dem besten Wege war, sich zu einem Weinnerd zu entwickeln. Seine Weinreisen führten ihn dann schließlich nach Europa. Spätestens ab da wusste ich, dass mein Nachbar nicht nur transformiert, sondern regelrecht vom Wein infiziert war, denn nach seiner Weinreise ins Burgund hatte er sich zu den höchsten Qualitäten und Preisen vorgearbeitet. Fortan schreckte mein Nachbar nicht mehr vor Weinen zurück, die weit mehr als 100 Dollar pro Flasche kosten.

Somit knüpfen wir an die Eingangsfrage an: Führt also die Arbeit eines Weinkritikers und Weinschreibers zwangsläufig dazu, dass Weinliebhaber zu solchen Extremen getrieben werden? Trage ich also die Schuld daran, dass sich mein Nachbar zu einem Weinverrückten entwickelt hat? Ist es denn wirklich so, dass wir Weinkritiker auch etwas verrückt sind? Also Ich fürchte ja, jedenfalls hinsichtlich unseres Feldzuges nach bestem Wissen qualitativ zu beraten. Glauben Sie mir, meine Absichten sind gut. Und keine Sorge, es gibt so viele gute Weine zu fairen Preisen und Sie müssen kein Weinverrückter werden, wenn Sie nicht wollen. (matt.kramer)

 

*Mencía ist eine Rotweinsorte, die in den autonomen Regionen Galicien und Kastilien, gelegen im Nordwesten Spaniens – insbesondere in den Anbaugebieten Bierzo, Rías Baixas, Valdeorras und Vinos de León) – stark verbreitet ist und die im spanischen Rebsortenspiegel den 9. Rang mit knapp 11.330 Hektar Rebfläche belegt. // *Bierzo ist ein Weinbaugebiet in Spanien, gelegen in der nordwestlichen gleichnamigen Region (Provinz León) nahe der portugiesischen Grenze und an die Region Galicien angrenzt. // *Ribeira Sacra ist ein Weinbaugebiet in Spanien, nordwestlich der Region Galicien in der Nähe der portugiesischen Grenze.