Wein & Kultur: Wein Heimat Württemberg 1/2022

Leandro Cultraro findet in der Kunst Frieden

Text: Ute Noll, Fotos: Ute Noll, Nadine Bracht

Der Schaffensprozess von Leandro Cultraro ist geprägt von seinem Verhältnis zur Welt. Das scharfe Messer ist neben Pinsel und Klebstoff sein wichtigstes Werkzeug. Mit ihm zerstört er frühere Werke aus Leinwand und Pappe und lässt daraus dann Neues entstehen. Was steckt hinter dieser Technik?

«suedseestartenzwei» – so nennt Leandro Cultraro eines seiner Werke. Mit diesem Titel vor Augen könnte man in dem dazugehörigen Werk Palmen erkennen, die bei gleißendem Licht unter leuchtend blauem Himmel vor einem türkis strahlenden Meer stehen. Das zwei Meter hohe und 1,70 Meter breite Bild entstand in der Pandemie, als die Südsee als Sehnsuchtsort unerreichbar war. Cultraro malt in der Tradition der abstrakten Malerei mit den Werkstoffen Öl, Lack und Acryl auf Leinwand. Pappe und Paketband verschmilzt er zu Skulpturen wie «Miss Liberty (looks like a fountain)». Konkrete Geschichten erzählen seine Werke nicht, stattdessen sind sie Projektions- und Assoziationsräume, sie laden dazu ein, beim Betrachten an eigene Bilder, Erinnerungen und Fragen anzuknüpfen. Cultraro arbeitet intuitiv, aber auch reflektiert und thematisch: Er beschäftigt sich beispielsweise mit der Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Realität, zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir sehen wollen, und auch mit dem, was das Gegenüber dabei empfindet. Perspektivenwechsel seien wichtig, sagt er, ebenso sei es essenziell, Grenzen auszuloten und zu überschreiten, sowohl im Kopf wie auch in der Kunst. Die farbigen Leinwandfetzen und Löcher im Bild «suedsee­startenzwei» zeigen etwas «vor dem Bild», die zerschnittenen Leinwandstreifen zeigen sich durch die Löcher «hinter dem Bild». Das Gemälde auf der Leinwand hat er mit dem Messer zerstört, mit den Überresten und neu Hinzugefügtem erschafft er einen dreidimensionalen Raum.

Meist ist Cultraro von früh bis spät an der Akademie. In der Zeit besucht er Seminare und arbeitet in den Werkstätten, in seinem Atelier tauscht er sich mit anderen Studierenden über Fragen des Lebens aus. Im geschützten Raum der Hochschule erfährt er, wie seine Bilder von anderen im Seminar gelesen und empfunden werden. Neben dem Vollzeit-Studium der freien Kunst belegt er seit 2021 zusätzlich den Studiengang Intermediales Gestalten bei der Konzeptkünstlerin Prof. Antonia Low. Hier stehen wissenschaftliches Recherchieren, konzeptionelles Arbeiten, Pädagogik und Ausstellungsdesign im Fokus. Mit diesem Abschluss darf er dann Kunst am Gymnasium lehren. Den Austausch mit den Schülerinnen und Schülern stellt er sich bereichernd vor, aber mit seiner eigenen Kunst aufzuhören, das ist für ihn unvorstellbar: «Große deutsche Künstler wie Jörg Immendorff und Gerhard Richter haben auch wichtige Werke in den Jahren erschaffen, als sie als Kunsterzieher einige Jahre an Schulen tätig waren.»