40 Jahre VINUM

Anektdoten zum Jubiläum

Christian Eder schreibt seit 1999 für VINUM

Aufwachsen mit VINUM

Meine Kinder – inzwischen 25, 22 und 13 Jahre alt – sind mit VINUM und damit natürlich auch mit Wein gross geworden. Dadurch, dass ich ja nicht nur Italien bereise und vor Ort bei Konsortien und Gütern verkoste, sondern auch Blinddegustationen in meinem Heimbüro organisiere, ist Wein in unserem Haus seit gut 20 Jahren allgegenwärtig. Weinflaschen sind zu Dutzenden nicht nur im Büro und Verkostungsraum zu finden, sondern haben auch den Rest unseres Hauses erobert. Zwar ist es noch nicht so kritisch wie bei einem italienischen Kollegen, bei dem die Kisten, sehr zum Ärgernis seiner Gattin, auch im Schlafzimmer gestapelt sind, aber bei Besuchern, die zu uns kommen, besteht ein gewisser Erklärungsbedarf. Zum ersten Mal wurde meiner Frau und mir das bewusst, als unser Ältester, der damals sechsjährige David, für das Fach «Bildnerische Erziehung» eine Zeichnung machen musste, welche die Arbeit seines Vaters darstellen sollte. Nachdem wir das Bild zu Gesicht bekamen, erwarteten wir stündlich einen Besuch des Sozialen Dienstes: Ich – mit Brille klar erkennbar – stand da breit grinsend und glücklich inmitten von zum Teil umgefallenen Flaschen, aus denen der Wein tropfte, und hielt dazu noch zwei Bouteillen in die Höhe. Um den Schaden zu begrenzen, lud meine Frau umgehend die Klassenlehrerin zu uns nach Hause ein, um ihr zu zeigen, dass wir eigentlich eine ganz normale Familie sind. Nach ein, zwei Gläsern Wein war sie wohl restlos überzeugt. Denn der Soziale Dienst klingelte nie an unserer Tür.

Carsten Henn schreibt seit 1996 für VINUM

Please cry for me Argentina!

Nach meinem Weinbau-Studium in Australien trat ich 1997 meine Praktikanten-Stelle bei VINUM an. Jürgen Mathäss war Chefredakteur und die Deutschlandredaktion sein schönes Haus in der Südpfalz. Die Familie Rebholz bot mir netterweise ein Dach über dem Kopf, ich war überglücklich: Endlich durfte ich über Wein schreiben! Ich arbeitete schon einige Tage, als Jürgen mich mit in seinen Weinkeller nahm und sagte: Such dir eine Flasche aus, die trinken wir heute Abend zusammen! Unter all den grossartigen und teuren Buddeln entschied ich mich für einen Malbec Estrella 1977 von Weinert, einen damals wie heute in Deutschland zu Unrecht relativ unbekannten Wein, der sagenhafte 19 Jahre im Fass gereift war. Da muss Jürgen, der diesen Wein liebt, wohl den Eindruck bekommen haben, dass ich etwas von Wein verstehe. Auf jeden Fall bot er mir an diesem langen Abend noch das Du an. Die Wahrheit ist, dass ich nicht den leisesten Schimmer hatte, wie gut der Wein war, und ich einfach nur die seltene Chance ergreifen wollte, einen lange gereiften Argentinier zu trinken. Man könnte also sagen: Argentinien startete meine Karriere als Weinjournalist und Weinkrimi-Schreiber. Und natürlich Jürgen Mathäss, dem ich heute noch dafür dankbar bin.»

Rudi Knoll schreibt seit 1984 für VINUM

Die Erfindung des Kameno Vino

Es war im Herbst 1989, als im damaligen Jugoslawien noch Ruhe vor dem 1991 aufkommenden Kriegssturm herrschte. Bei einer Tour durch das Land wurde auch eine Kellerei in der Nähe von Mostar besucht, mit Besichtigung der Weinberge. Ein Areal auf einem Hochplateau mit vielen Steinen fiel dabei besonders auf. Es erinnerte vom Boden her an eine Mondlandschaft, aber hier wuchsen die Stöcke gut heran. Die Frage nach der Sorte wurde mit «Zilavka», der traditionellen Rebe des Gebietes, beantwortet. Als der Direktor der Kellerei, Citluk, erzählte, dass der Wein mit dem üblichen Zilavka aus dem Tal verschnitten wurde, kam Fassungslosigkeit auf. Warum nicht etwas Eigenständiges machen, nachdem hier sicher das Traubenmaterial besser als in der Ebene sei, wurde er gefragt. Ein paar Stunden später seine Antwort: «Wir machen das!» Der Name war schnell gefunden. Stein heisst in der Landessprache Kameno, also Kameno Vino (nachzulesen in VINUM 11/1989). Was dann ein paar Monate später bei einem Kurztrip nach Jugoslawien aus dem Tank verkostet werden konnte, war richtig gut, filigran und tiefgründig. Aber leider war es bei der Kellerei Usus, dass vor der Füllung noch geschönt und separiert sowie scharf filtriert wird. Das Ergebnis war dann leider nur ein etwas strapazierter, allenfalls netter Wein – den es immer noch gibt, mit Herkunftsangabe Bosnien & Herzegowina. Die Erfindung des VINUM-Redakteurs hat damit Bürgerkrieg sowie gut 30 Jahre überstanden und wird im Handel heute als «Spitzenwein aus einer aussergewöhnlichen Lage» angepriesen…

Thomas Vaterlaus schreibt seit 1995 für VINUM

Mit Promille im Anflug

Ein Pick-up braust über sandige Naturstrassen durch einen abgelegenen Winkel des Limari Valley in Chile. VINUM-Fotograf Heinz Hebeisen und ich sitzen zusammengequetscht auf der Rückbank, während hinten auf der Ladefläche unsere Foto- und Computer-Taschen in einer gewaltigen Staubwolke rumhüpfen. Es war der letzte Tag des zweiwöchigen Chile-Trips im Jahr 2006 und die Besitzer von Viña Tamaya servierten in einem abgelegenen Farmhaus in den Anden reichlich Ceviche, Empanadas und Fleisch, das mit viel Shiraz-Reserva runtergespült wurde. Es war Freitagmittag, faktisch Wochenende. Doch irgendwann kam Kollege Hebeisen mit ernster Mimik zu mir und sagte: «Wir sind doch ewig lang gefahren, bis wir hier waren. Und in knapp drei Stunden geht unser Flieger von La Serena nach Santiago mit Anschlussflug zurück nach Europa. Das schaffen wir nie mehr…» Ich teilte dem Patron von Viña Tamaya umgehend unsere Bedenken mit. Der lachte und sagte: «Macht euch keine Sorgen, geniesst euer Dessert.» Eine halbe Stunde später tippte ich nochmal zu Erinnerung auf meine Armbanduhr, dann ging alles ganz schnell. Wir verliessen das Lokal fluchtartig, sprangen in die Pick-ups und brausten los. Doch kaum hatten wir die asphaltierte Überlandstrasse erreicht, verliessen wir sie auch schon wieder und hielten vor einer alten Scheune. Drinnen stand, von löchrigen Tüchern bedeckt, eine Piper-Propellermaschine. In weniger als fünf Minuten war das Ding mehr oder weniger startklar. Hebeisen und ich sassen nun noch enger zusammen und hatten unser total verstaubtes Gepäck auf den Knien, während die Maschine über die Graspiste hoppelte und irgendwie abhob. Kaum in der Luft, wollte Hebeisen sicherheitshalber wissen, ob auch wirklich genug Sprit im Tank sei. Der junge Pilot schaute erschreckend lange auf die Anzeige und meinte: «Es sollte reichen.» Um die Gebirgskette zu überfliegen, die uns vor der Küste trennte, mussten wir ein paar heftige Kreise hinlegen. Dann, schwupp, unterstützt von reichlich Thermik, kamen wir knapp rüber. Als der Flughafen in Sicht kam, sahen wir von oben, wie gerade die letzten Passagiere in unseren Jet einstiegen. Unser Pilot parkierte seine Piper direkt neben der Boeing. Ein Flughafenangestellter rannte mit uns ins Gebäude und dann, nach der Abnahme unseres Gepäcks (eingecheckt bis Zürich), direkt zum Flieger, wo uns rund hundert andere Passagiere schon sehnsüchtig erwarteten. Zuerst aber sagten wir unseren Piper-Freunden, die an der Flugzeugtreppe grinsend auf uns warteten, tschüss. «War knapper, als wir gedacht hatten», sagte René Marino, der Mitbesitzer von Viña Tamaya, «aber wenn wir zu spät gekommen wären, hätten wir einfach die Kiste wieder vollgetankt und wären mit euch in zwei Stunden direkt nach Santiago geflogen. Dann hätten wir unterwegs noch unseren neuen Chardonnay verkosten können…»

Rolf Bichsel schreibt seit 1988 für VINUM

Abendessen auf Pichon Lalande

Ende der 1980er Jahre wurde ich zum ersten Mal allein auf ein Château zum Abendessen geladen: auf Pichon Longueville, Comtesse de Lalande bei Pauillac. Weil ich mich bis anhin standhaft geweigert hatte, den Führerschein zu machen, und nicht gut mit dem Fahrrad ins über 50 Kilometer entfernte Château radeln konnte, fuhr ich mit dem Bus von der Bordelaiser Altstadt zum Weiler Saint-Lambert. Dass ich in dem von lärmenden Schulkindern, verschwitzten Rebarbeitern und mit vollen Einkaufstüten bewaffneten Hausfrauen besetzten Bus in meinem schwarzen Anzug mit Schlips doch ziemlich aus dem Rahmen viel, sei nur am Rande erwähnt.

Wir waren allein, von zwei Hausangestellten abgesehen. Die «Générale», wie alle die damalige Besitzerin May-Eliane de Lencquesaing nannten, erwies sich als erfahrene Gastgeberin, die mir bereits beim Aperitif im Salon die Scheu nahm, auch wenn sie sich bis zum Ende des Abends nicht darauf einigen konnte, ob sie mit mir nun französisch oder englisch konversieren sollte. So wechselte sie laufend von einer Sprache in die andere, rasant und routiniert und mit dem singenden Tonfall der französischen Oberschicht, die ich bis anhin nur aus alten Kinofilmen kannte. Sie erzählte Familienanekdoten, befragte mich zur Karriere meines Vaters (Vorarbeiter in einer Giesserei, die Pleite gegangen war, und jetzt Kunsthandwerker) und ging über zu französischer Geschichte. Welches ist ihr Lieblingskönig? – Henri IV, antwortete ich verdattert, schliesslich hatte ich gerade Heinrich Manns Roman gelesen – was sie kopfschüttelnd missbilligte, war der gute Heinrich doch nicht nur ein halber Spanier, sondern zeitweise erst noch Protestant. War die resolute Generalin nicht in Paris auf die Strasse gegangen, um gegen die von Mitterrand geplante Einstellung der katholischen Privatschulen zu manifestieren? Sie schwor auf Louis le Pieux, Ludwig den Frommen, 778 in der Nähe von Bordeaux geboren, und landete schliesslich bei der Frage, welchen Wein ich lieber mochte, Château Palmer 1961 oder Château Margaux 1961. Natürlich kannte ich weder den einen noch den anderen (was ich später doppelt und dreifach nachholte, in Andenken an die mediengewandte Besitzerin, die schon mal vor laufender Kamera erklärte, Wein sei ein Agrarprodukt und sie nur eine Bäuerin). Gerettet wurde ich schliesslich vom lauten «Madame est servie» (es ist angerichtet) der Hausangestellten. Nun komplizierten sich die Dinge allerdings. Wir wurden gegenüber an die mindestens acht Meter auseinander liegenden Tischenden einer riesigen Tafel platziert, konnten in der Folge die Distanz nur mehr schreiend überbrücken und verstanden dennoch nur die Hälfte. Doch das Mahl mundete hervorragend. Es gab Neunauge in Weinsauce und gefüllten Fasan und Käse und frische Erdbeeren mit Schlagsahne und dazu herrliche Jahrgänge (1970, 1978, 1979 und 1983), an deren Bouquet und Geschmack ich mich bis heute erinnere. Das Essen zog sich dahin, ich schielte immer wieder auf die Uhr. In meiner Nervosität hatte ich vergessen zu schauen, wann der letzte Bus ging. Natürlich wagte ich nichts zu sagen, hatte ich doch trotz meiner schreienden Unerfahrenheit bereits ausgemacht, dass das Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel nicht eben zur Kultur der Bordelaiser Elite gehörte. Um 23 Uhr wurde ich endlich in aller Form entlassen. Ich nahm die paar hundert Meter zur Busstation die Füsse unter den Arm, nur um festzustellen, dass der letzte Bus schon um 19.30 Uhr zurück nach Bordeaux gefahren war. Ohne Kleingeld und nur mit einer Kreditkarte bewaffnet, suchte ich nach einer Telefonzelle. Nach einer Stunde Fussmarsch war ich auf den Quais von Pauillac angelangt, wo ich als einziges Lebewesen einen einsamen Kellner ausmachte, der eben die Terrasse reinigte. Ans Telefon des Restaurants wollte er mich zu solch später Stunde allerdings nicht lassen, doch er lieh mir grosszügig einen Franc. Ich fand tatsächlich eine funktionierende Telefonzelle, klingelte meine Frau aus dem Bett, die davon ausgegangen war, dass ich auf dem Château übernachten würde, und bat sie ziemlich atemlos (ein Franc dauert nicht ewig), mich doch bitte dringend in Pauillac aufzupicken. Am nächsten Tag schrieb ich mich in die Fahrschule ein. Meine erste Visite nach absolvierter Fahrprüfung mit (geborgten) vier Rädern machte ich dann bei Thierry Manoncourt auf Château Figeac. Der grosse alte Mann von Saint-Émilion begleitete mich am Ende des Besuchs zum Wagen und betrachtete nachdenklich das «A» (für Anfänger), das noch an der Heckscheibe klebte. Ich gestand, dass ich eben erst fahren gelernt hätte. «Ce qui est important, c’est que tu montres toujours vers où tu veux aller. N’oublie jamais de mettre le clignotant.»

(«Wichtig ist, dass du den anderen immer zeigst, wohin du fahren willst, darum vergiss nie den Blinker.) Ich folge bis heute dieser Maxime, nie ohne dankbar an Thierry Manoncourt zu denken, der nicht nur mehr für meine Integration in die Welt der grossen Bordeaux getan hat als die meisten anderen, sondern auch dafür gesorgt hat, dass ich bis heute trotz meiner bedenklichen Fahrkünste nie einen Autounfall erlitten habe.