Eine Reise zu den Pionieren der neuesten und erstaunlichsten Weinregion Amerikas

Brasilien: Weinrevoluzzer der Serra Gaúcha

Text: Philipp Lichterbeck, Fotos: Evgeny Makarov

In Südbrasilien haben sich Dutzende Winzer darangemacht, die alten Familiengüter umzukrempeln und Spitzenweine zu produzieren. «Wir müssen uns vor niemandem verstecken», sagen die Nachfahren italienischer Einwanderer. Immer noch kämpfen sie mit dem Vorurteil, dass aus Brasilien keine edlen Tropfen kämen. Eine Reise zu den Pionieren der neuesten und erstaunlichsten Weinregion Amerikas.


Estrelas do Brasil

Die Sterne Brasiliens

Mit wehenden Haaren steht Irineo Dall’Agnol im Abendwind auf seinem Hügel. «Natürlich hielten viele mich für verrückt», sagt er. «Das ist so, wenn du etwas Neues machst.» Der 55-jährige Winzer kippt sich den letzten Rest eines Extra Bruts ins Glas, eigene Herstellung. Mit der Zunge schnalzend trinkt er aus. Ein wenig erinnert er an den früheren Gérard Depardieu: kräftige Geniesserstatur, unkonventioneller Pagenschnitt, Lausbubenlächeln.

Dall’Agnols Heim ist ein Bungalow auf einer Bergkuppe, davor eine violette Bougainvillea, daneben ein Meer knallgelber Arnika. Es ist leicht zu verstehen, warum Irineo Dall’Agnol sich vor 15 Jahren in diesen Hügel verliebte «wie in ein hübsches Mädchen». Er sah hier, in der Nähe des Örtchens Faria Lemos, die Zukunft. «Ich wollte Sterne abfüllen, Sterne des Südens. Ich wollte Spitzenweine keltern, Superschampus machen.» Sein kleines Weingut befindet sich in der Serra Gaúcha, einem wunderbaren Bergland in Rio Grande do Sul, dem südlichsten brasilianischen Bundesstaat. Halt, Stopp! Spitzenweine aus Brasilien? Das ist ein Oxymoron, eine Zusammenstellung von sich widersprechenden Begriffen. Edler Wein aus Südamerika stammt aus den Andenländern Argentinien und Chile. Wenn Brasilien für ein Getränk bekannt (und berüchtigt) ist, dann für den Zuckerrohrschnaps Cachaça.

«Ich wollte Sterne abfüllen. Sterne des Südens. Wir wollten all die Vorurteile widerlegen.»

Doch es hat sich eine kleine Revolution ereignet in der Serra Gaúcha. Sie startete um die Jahrtausendwende, als sich einige junge Winzer rund um die Kleinstädte Garibaldi und Bento Gonçalves daran machten, die alten Familiengüter umzukrempeln, um Spitzentropfen zu produzieren. «Wir wollten all die Vorurteile widerlegen», ist ein Satz, den wir auf unserer Reise durch die Serra Gaúcha immer wieder hören. «Wir wollen anders sein», ist ein zweiter Satz, den wir hier häufig hören, «Brasilien muss sich vor niemandem mehr verstecken.» Irineo Dall’Agnol ist einer der Pioniere in der Serra Gaúcha. Er besitzt diese brasilianische Lockerheit. «Es ist schon frustrierend», sagt er. «Man kann nicht alle Weine der Welt trinken und nicht mit allen Frauen der Welt schlafen.» Von Dall’Agnols Hügeln erhalten wir einen guten Blick über die Region. Man überschaut ein Tal, durch das sich der Rio das Antas windet, der Tapir-Fluss. Weinberge schwingen sich die Hänge hinauf, dazwischen verbinden Staubstrassen kleine Ortschaften. Man könnte meinen, im Moseltal oder im Rheingau gelandet zu sein. Wenn da nicht immer wieder Palmen zwischen den Reben aufragen würden. «Wir haben hier etwas, das es sonst nirgendwo gibt», sagt Dall’Agnol. «Unsere Trauben gedeihen inmitten des atlantischen Dschungels.» Tatsächlich breiten sich zwischen den Weinbergen grosse Waldstücke der Mata Atlântica aus.

Bis vor 150 Jahren war die Serra Gaúcha noch vom indigenen Volk der Caingangues bevölkert. Dann entschied die Regierung, Italiener anzusiedeln. Ab den späten 1870ern folgten circa 90 000 Norditaliener dem Ruf «Fare l’America» in die Berge. Die Italiener erhielten damals ein kleines Stück Land und mussten helfen, die Gegend urbar zu machen: Wälder roden, Strassen bauen, Ortschaften errichten. Sie kamen aus Venetien, dem Friaul und Trentino und taten in der Serra Gaúcha dann das, was sie schon in Italien getan hatten: Vieh züchten, Getreide und Gemüse anbauen sowie Wein pflanzen, vor allem die amerikanischen Sorten Isabella und Niagara. Daraus machten sie Wein für den Eigenbedarf. Mit der Zeit wuchs der Weinanbau und die Bauern schlossen sich zu Kooperativen zusammen. Diese Kooperativen sowie drei, vier Grossbetriebe dirigierten jahrzehntelang das Wirtschaftsgeschehen der Region, sie kauften die Ernte der Kleinbauern auf und bestimmten die Preise.

All das änderte sich Ende der 1990er Jahre. Die Nachfahren der ersten Einwanderer beschlossen, etwas Neues zu machen. Sie sagten: «Wir haben die Böden, wir haben das Klima, wir haben die Hänge. Wir müssen nur noch lernen, wie man guten Wein macht.» Und sie lernten schnell. Irineo Dall’Agnol stiess 2005 zu den Revoluzzern. Auch seine Vorfahren waren einst aus Italien eingewandert, er selbst hatte für das Landwirtschaftsministerium gearbeitet, Sektion Wein. Dann entschied er mit einem befreundeten Önologen aus Uruguay: Wir machen Schampus. Sie kauften Weinberge, insgesamt 23 Hektar, und nannten ihre Firma Estrelas do Brasil, Sterne Brasiliens, nach einem Zitat des Benediktinermönchs Dom Pérignon, in dessen Abtei der Champagner entstanden sein soll. Dall’Agnols Bruts sind im Champenoise-Verfahren hergestellt, er verzichtet auf jegliche Zusätze. Und sie gehören zum Besten, was Brasilien zu bieten hat, werden häufig prämiert. Dall’Agnol beschreibt sie ganz simpel als «tropisch». Das trifft’s gut. Sie wirken weniger robust und ernst als ihre Pendants in Europa, dafür fröhlicher, floraler und auch unverbindlicher. «Es sind ja Brasilianer», sagt Dall’Agnol. Der Grund für die Spritzigkeit sei der hohe Kaliumgehalt der Böden, er führe zu Frische und Jugendlichkeit.

Zu den sehr mineralhaltigen Basaltböden kommt noch ein ideales Temperaturgefälle hinzu. «Letzte Nacht waren es zehn Grad», sagt Dall’Agnol, «jetzt sind es 30, viel heisser wird es nicht. Ein bisschen geregnet hat es, aber nicht zu viel. Die Trauben lieben das.» Obwohl Dall’Agnols Passion den Bruts gilt, macht er auch erfolgreiche Rotweine. Sein Tannat von 2008 wurde vergangenes Jahr von Brasiliens grösster Zeitschrift, «Veja», zu den besten 20 Rotweinen des Landes gezählt.

www.estrelasdobrasil.com.br 


Familie Pizzato

Merlot in der DNA

Flávio Pizzato schüttelt immer noch ungläubig den Kopf. «Wir waren unerfahrene Winzer», sagt er, «aber unsere Trauben waren einfach richtig gut.» Der 53-Jährige ist Chef-Önologe des Pizzato-Weinguts und wurde 2020 von der renommierten brasilianischen Messe für Weinexport, ViniBraExpo, zur Persönlichkeit des Jahres gewählt. Wie wenige andere spiegelt die Geschichte seiner Familie den Aufstieg der Region zu einer der ersten Weinadressen wider. Die Produktionsstätte der Pizzatos liegt in dem verschlafenen Weiler Santa Lúcia im Vale dos Vinhedos, dem Tal der Weinberge, einer Mikroregion der Serra Gaúcha, in der sich auf relativ kleinem Raum Dutzende Weingüter tummeln. Als erste brasilianische Region erhielt sie vor zehn Jahren eine geschützte Herkunftsbezeichnung für ihre Weine.

«Die Wahrheit des Weins liegt in der Traube. Minimale Intervention, maximale Expression.»

Hauptort des pittoresken Tals ist Garibaldi, eine Kleinstadt mit 35 000 Einwohnern, die nach dem italienischen Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi benannt wurde, der sich hier in den 1830er Jahren an einer Revolution für die Unabhängigkeit Südbrasiliens vom Kaiserreich beteiligte. Bekannter ist der Ort allerdings als «Hauptstadt des Schaumweins», offizieller Beiname und feuchtes Versprechen. Es war in der zweiten Hälfte der 1990er, als Flávio Pizzato mit seinem Bruder und zwei Schwestern einen Plan ausheckte. Auch ihre Familie war Ende des 19. Jahrhunderts aus Norditalien eingewandert, nun wollten die vier das alte Gut umkrempeln. Der erste Schritt auf der Mission Spitzenwein: Die Pizzatos rissen die amerikanischen Reben heraus und pflanzten europäische Sorten: Merlot, Tannat, Pinot Noir, Cabernet Franc (der hier besser gedeiht als der Cabernet Sauvignon), Chardonnay, Sauvignon Blanc, Riesling. Als nächstes stiegen sie in die Kellergewölbe hinab und zerlegten die alten Tanks aus Araukarienholz, die sogenannten Pipas. Edelstahltanks wurden angeschafft.

«Dann geschah das Unglaubliche», erzählt Flávio Pizzato. «Unser erster Rotwein schlug wie eine Bombe ein: ein Merlot, Ernte 1999.» Damals war gerade der erste professionelle Weinführer für Brasilien erschienen, und der Pizzato-Merlot wurde auf Anhieb als bester Rotwein des Landes gelistet. «Unser 99er Merlot war der erste Kultwein Brasiliens», sagt Flávio Pizzato. «Von da an wussten wir, dass wir fantastische Bedingungen haben.» Seine 15 500 Flaschen waren im Nu verkauft, und der Name Pizzato war fortan eine Referenz für das grosse Potenzial des Vale dos Vinhedos. Es begann also gut für die Pizzatos. Dann geschah ein Unfall. 2007 stürzte Bruder Ivo, kaum 31 Jahre alt, mit dem Auto von einer Brücke und starb. Es war ein Schock für die Familie, die sich fortan in Arbeit flüchtete. «Ivo war ein begnadeter Önologe», sagt Flávio. «Nun mussten wir ohne ihn beweisen, dass wir spitze sind. Das hätte auch er so gewollt.»

Heute produzieren die Pizzatos mit 42 Hektar Weinbergen an drei Standorten rund 300 000 Flaschen, mehr als die Hälfte ist Rotwein, 30 Prozent sind Sekt, der Rest ist Weisswein. Immer wieder haben sie in den vergangenen Jahren Standards gesetzt, insbesondere mit ihren Merlots. Der Tropfen aus dem Jahr 2012 erhielt 94 Punkte vom «Decanter»-Magazin – die beste Note, die bis dato ein brasilianischer Wein erzielte. Ihre Merlot-Linie haben die Pizzatos DNA 99 getauft, als Hommage an die erste grosse Ernte; und auch weil alle weiteren Erfolgsmerlots von demselben Weinberg stammen. Jetzt sind sich Vater Plinio und Sohn Flávio einig: Der 2020er-Jahrgang hat Trauben voller Farbe, Zucker und Aromen hervorgebracht. Man werde wohl den ersten Blockbuster aus Brasilien produzieren, «so im Parker-Stil, ein richtig schwerer Tropfen mit viel Alkohol und Tanninen».

www.pizzato.net 


Lídio Carraro

Die Hyperlokalen

Sie gelten als die ehrgeizigsten Weinproduzenten der ganzen Region, die Carraros. Ihr Gut liegt nur fünf Minuten von dem der Pizzatos entfernt, Hauptquartier ist das alte, unter Bäumen gelegene Elternhaus. Benannt haben sie ihr Unternehmen nach Vater Lídio Carraro. Einst war Lídio Carraro ein bescheidener Weinbauer, der seine Trauben an Saftproduzenten verkaufte. «Ich selbst träumte immer davon, einen eigenen Wein aus meinen Trauben zu machen», sagt er. Heute sind Carraros Rotweine aus den Listen mit den besten Weinen Brasiliens nicht mehr wegzudenken.

Die neue Generation sind neben der 41-jährigen Patrícia Carraro die beiden Söhne Juliano, 40, und Giovanni, 32, Letzterer ist der Chef-Önologe des Guts. Wie die Pizzatos haben auch die Carraros den Wandel ihrer Firma minutiös geplant. Für sich haben die Carraros den Begriff «Purist Wines» entdeckt. Er heisst, dass sie vollkommen ohne Holz arbeiten. Die Weine reifen einzig in Stahltanks, teils mehr als 14 Monate. «Die Wahrheit des Weins liegt in der Traube», sagt Patricia Carraro, «minimale Invasion, maximale Expression!» Es ist daher auch konsequent, dass die Carraros Terrakotta-Amphoren haben anfertigen lassen. Zum Konzept der Carraros gehört auch die minutiöse Bodenanalyse ihrer 60 Hektar Weinberge an zwei Standorten. Patrícia Carraro zeigt Einmachgläser mit Proben, die von Gelblich über Braun bis Grau reichen. Ja nach Bodenbeschaffenheit habe man Hänge parzelliert und versuche jeweils die beste Traube für den entsprechenden Boden zu finden. Es können auch seltenere Sorten wie Touriga Nacional, Teroldego, Marselan und Nebbiolo sein. Ohnehin fällt auf, wie viele unterschiedliche Traubensorten die brasilianischen Winzer anbauen.

Die Hänge der Carraros im Vale dos Vinhedos sind vulkanischen Ursprungs und haben einen hohen Anteil von Ton und Sand, was die Weine komplexer und eleganter macht. Ihre Lagen bei dem Ort Encruzilhada do Sul sind hingegen granit- und kalkhaltiger. Winzer wie die Carraros heben diese Bodenunterschiede hervor, auch weil sie versuchen, ihrem Wein eine hyperlokale Identität zu geben. Sie folgen damit dem Terroir-Konzept. Der Globalisierung des Weins, der sich die Output-Weltmeister Argentinien und Chile unterworfen haben, setzen sie Heimat und Scholle entgegen. Das Konzept macht sich für die Carraros bezahlt. Insbesondere ihre Tannats gelten als die besten ihrer Art. Der von 2010 (ungefiltert, 15,5 Vol.-%) wurde schon als weltweit bester Wein seines Jahrgangs bezeichnet.

www.lidiocarraro.com/en 



Vanessa Kohlrausch Medin

Kraft des Universums

Vanessa Kohlrausch Medin ist die erste selbstständige Weinproduzentin im Vale dos Vinhedos. Die 31-Jährige führt sozusagen einen Ein-Frau-Betrieb. «Einfach ist es nicht», sagt sie, «die Gesellschaft ist traditionell und patriarchal. Es gibt nur ein paar weibliche Önologen, aber ich setze mich schon durch.» Sie hatte für grosse Weinproduzenten in der Region gearbeitet, als sie vor knapp fünf Jahren entschied: «Ich mache meinen Traum wahr. Ich mache Naturwein.» 

«Es gibt nur ein paar weibliche Önologen, aber ich setze mich durch. Ich war schon immer anders.»

Das Konzept entdeckte sie auf einer Reise durch Frankreich, bei der sie verschiedene Mikro-Weingüter kennengelernt hatte. Zurück in Brasilien erwarb die Tochter eines italienisch-deutschstämmigen Paares 0,9 Hektar Weinberge, auf denen sie neben Chardonnay auch ungewöhnlichere Trauben wie Gamay und Malvasia di Candia pflanzte. «Ich bin schon immer anders gewesen», sagt die 31-Jährige und klingt wie der weibliche Widerpart zu Irineo Dall’Agnol. Medins Weine entstehen völlig ohne Zusätze und ohne Holz und sind geschmacklich auf der leichten, frischen und fruchtigen Seite angesiedelt – vielleicht genau das richtige für das heisse Brasilien. Die Philosophie der jungen Winzerin lautet: «Die Kraft des Universums in Flaschen abfüllen, Nahrung für die Seele keltern.» Natürlich ist das ziemlich esoterisch, aber wer die herzliche und unbeschwerte Medin einmal erlebt hat, merkt schnell, dass es für sie keine Marketingsprüche sind.

Vanessa Kohlrausch Medin lebt alleine in einem Haus inmitten ihrer Weinberge, ihre einzige ständige Begleitung sind sechs Hunde, die sofort angerannt kommen, als sie nach ihnen ruft. Ihre Weine macht sie in einer Garage unter dem Haus in Tanks aus Polypropylen, für mehr reicht das Kapital bisher nicht.

Ihre Produktion liegt bei bescheidenen 4500 Flaschen, sie vertreibt sie über Instagram. Auf einem der bunten und wilden Flaschenetikette, die eine Freundin für sie designt, ist ein Eichhörnchen zu sehen, das in eine Pusteblume greift, während die Samen davonschweben. «Construindo Sonhos» (Träume konstruieren) hat sie den Natur-Schaumwein (Chardonnay, 2019, 10,5 Vol.-%) genannt. Sie ist gerade dabei, ihren Traum zu verwirklichen.

www.instagram.com/vinhosartesanaisvanessamedin 

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