Mythos alte Reben

Alter vor Schönheit

Text: Harald Scholl, Fotos: Anna Stöcher

Zu den Charakteristika der Weinwelt gehören Mythen unbedingt dazu. Geschichten von unerhörten Trouvaillen, von Billigweinen, die mit jedem Grand Cru mithalten können, von sensationellen Kellerfunden – und von uralten Rebstöcken, die so viel bessere Weine erbringen als die jungen. Nichts als Mythen? Oder ist an alten Rebstöcken doch etwas Besonderes? Ein Symposium ging dieser Frage auf den Grund.

Es ist eine kleine, aber umso hochkarätigere Gruppe von Winzern, die sich dem Schutz von wurzelechten und somit alten Rebstöcken verschrieben hat. Unter dem Vorsitz von Loïc Pasquet aus Bordeaux, als Schöpfer des 30 000-Euro-Bordeaux «Liber Pater» kein Unbekannter, steht die Bewegung Franc de Pied. Als auf Deutsch wörtlich übersetzt «ohne Fuss» meint dies, dass es sich um Reben handelt, die ohne Rebunterlage, also wurzelecht, wachsen. Ziel der Gruppe ist es, eine Anerkennung wurzelechter Reben durch die UNESCO zu erreichen. Nicht zuletzt, um die Neupflanzung solcher Rebstöcke zu ermöglichen, denn im Moment ist es in vielen Ländern – unter anderem in Deutschland und Österreich – streng verboten, Reben ohne amerikanische Unterlage zu pflanzen. Der Gruppe gehören namhafte Winzer aus ganz Europa an, Egon Müller (Mosel), Joh. Jos. Prüm (Mosel), Andrea Polidoro von Cupano (Montalcino) und Contrada Contro (Marken), Thibault Liger-Belair (Burgund), Chartogne-Taillet (Champagne) und die St. Jodern Kellerei (Wallis), um nur einige zu nennen. Durch die Aufnahme in die UNESCO-Liste schützenswerter Kulturgüter erwarten die Winzerinnen und Winzer mehr Aufmerksamkeit der Weinfreunde und auch die Bereitschaft, für solche Weine entsprechend zu bezahlen. Dafür gibt es gute Gründe, zum einen bilden wurzelechte Reben in einzigartiger Weise ihr Heimatterroir ab, sind die Protagonisten überzeugt. Zudem ist die Pflege solcher Rebanlagen extrem aufwändig und ein wirtschaftlicher Kraftakt. Aber ob diese Reben und daraus resultierende Weine wirklich so besonders, so einmalig sind, darüber gibt es durchaus geteilte Meinungen.

Zum Stand der Dinge

Auf einem Symposium im österreichischen Alpendorf Lech sollte der Frage, ob Weine von alten Reben – ganz gleich, ob wurzelecht oder gepfropft – wirklich besser schmecken, handfest nachgegangen werden. Reihen sich doch eine Menge Mythen um diese «alten Reben». Übrigens ein Begriff, der rechtlich nicht geschützt ist und von Weinbaubetrieben weltweit auf jeweils eigene Weise interpretiert wird. Der Begriff «Alte Reben» auf dem Etikett ist unstrittig ein beim Verbraucher wirksamer Begriff und dürfte helfen, so manchen Wein deutlich leichter zu verkaufen. Auf Nachfrage bei verschiedenen Weinbaubetrieben gelten Rebstöcke mit mehr als 25 Jahren Alter bereits als alt. Was aus Sicht anderer Winzer schon einem Etikettenschwindel gleichkommt, 40, 50 Jahre sollten Rebstöcke schon auf dem knorrigen Buckel haben, bevor man von «alt» sprechen könne. Um so ein Alter erreichen und gleichzeitig noch wirtschaftlich funktionieren zu können, braucht der Rebstock Pflege und Aufmerksamkeit. Das ist aufwändig, kostet Zeit und Wissen. Eine Grundvoraussetzung ist der richtige Rebschnitt. Hier hat sich in den letzten Jahren in der Wissenschaft einiges getan, vor allem der Begriff des «sanften Rebschnitts» geistert permanent durch die Gespräche mit Winzern. Dahinter verbirgt sich die Erkenntnis, dass jeder Schnitt in das Holz des Rebstocks eine Verletzung ist. Ebenso die Überlegung, wie man es schaffen kann, dass diese Verletzung möglichst gering ausfällt und der Rebstock in die Lage versetzt wird, diese Wunde schnellstmöglich wieder zu schliessen.

Forschung und Praxis

Die Staatliche Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau in Weinsberg arbeitet seit geraumer Zeit zu diesem Thema. Mit relativ eindeutigen Ergebnissen. Hanns-Christoph Schiefer und Gunnar Timm stellen in einer Untersuchung fest: «Lange Rebenstandzeiten und gesunde Reben sind Voraussetzung für einen ökonomischen Weinbau und eine hohe Weinqualität. Da der Rebstock keine Möglichkeit hat, grössere Wunden, insbesondere bei Schnitten ins alte Holz, durch Kallusbildung zu verschliessen, können Pilzkrankheiten wie Esca und Eutypiose durch grosse Wunden eindringen und zum Verstopfen der Leitbahnen führen. Oft sind die Schäden von aussen nicht sichtbar, doch plötzlich stirbt der Rebstock mitten im Sommer ab. Bei Reben aber, die nie ins mehrjährige Holz zurückgeschnitten wurden, bleiben die Leitbahnen und Holzkörper meist gesund.» Bemerkenswert ist auch die Begründung, warum diese Form des Rebschnitts nicht mehr Standard ist: «Die Idee des wundenarmen Rebschnittes ist altbewährt und durch wirtschaftlichen Druck im Weinbau und stetes Rationalisieren in Vergessenheit geraten.» Das Lehr- und Forschungszen­trum Höhere Bundeslehranstalt und Bundesamt für Wein- und Obstbau in Klosterneuburg (Österreich) kommt zu ähnlichen Erkenntnissen. Bei Versuchen zum sanften Rebschnitt bringt diese Art des Rebschnitts «nachweislich weniger Esca-Befall», ausserdem seien «sensorische Steigerungen [...] möglich». Auf Deutsch: Es schmeckt besser. Das bestätigt auch Hans­peter Ziereisen, Winzer aus dem Markgräflerland. Er sagt: «Alte Stöcke verleihen dem Wein noch einmal eine andere Dimension, das ist eine andere Welt. Vor allem in schwierigen Jahren, mit viel Trockenheit und Hitze, da stehen die älteren Reben einfach besser da, sind noch grün und kraftvoll, wenn die jüngeren schon die Blätter hängen lassen.»

Sorgfalt und Pflege

Der im Moment international bekannteste Vertreter des sanften Rebschnitts ist Marco Simonit aus dem Friaul. Er ist der bekannteste Exponent des sogenannten «sanften Rebschnitts», bei dem es darum geht, den Rebstock so lang wie möglich vital und ertragreich zu halten. Simonit hat mit seinem Kollegen Pierpaolo Sirch vor rund 30 Jahren ein Beratungs- und Schulungsunternehmen für den sanften Rebschnitt gegründet. Sie haben das Thema wieder ins Bewusstsein bei Weinbaubetrieben weltweit geholt, mehr als 15 000 Fachkräfte haben die beiden ausgebildet und beraten Spitzenweingüter auf der ganzen Welt.

«Auch im konventionellen Weinbau kann ein höheres Rebalter erreicht werden.»

Ihr Credo deckt sich mit den Erkenntnissen der Kollegen, es geht in erster Linie darum, Wunden im Rebholz zu vermeiden, denn der Saftfluss ist elementar. Das von ihm entwickelte Schnittsystem beruht darauf, nur ein- bis maximal zweijähriges Holz zu schneiden. Der neu angeschnittene Trieb soll dabei immer an der Basis des Zapfens des Vorjahres belassen werden. Denn der Schnitt auf altem Holz – ab drei Jahren spricht man davon – hinterlässt eine Wunde. Hier können leicht Holzpilze eindringen, die Ursache von Rebholzkrankheiten wie eben zum Beispiel Esca. Das Beste daran: Grundsätzlich kann so auch im konventionellen Weinbau ein höheres Alter der Reben erreicht werden.

Und jetzt: Geschmacksfragen

Zurück zu den alten Reben. Und zu dem, was sie so besonders macht. Und da können alte Reben vielen Unken­rufen zum Trotz wirklich punkten. Das zeigte sich im Tasting von ausgewählten Weinen, die von wirklich alten Rebstöcken kommen. Auffällig waren sie weniger durch vordergründige Kraft oder sensorische Überwältigung.

«25 Jahre auf dem Etikett – das kommt aus Sicht ­mancher Winzer ­einem Etiketten­schwindel gleich. »

Vielmehr überzeugten sie durch die eindeutige Zartheit der Aromen bei gleichzeitiger Tiefe des Spektrums. Selbst die als aromatisch geltende Rebsorte Riesling zeigte in allen Weinen eine fast schwebende Eleganz, die gerne beschriebenen Primäraromen – Kernobst, Steinobst, exotische Früchte – suchte man vergebens. Eine gewisse Erfahrung in der Degustation von Weinen aus alten Reben ist also auch beim Weintrinker vorauszusetzen. Sonst erschliesst sich diese besondere Nuance der Weinwelt nicht wirklich.

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