Die Verkostung der Wein-Raritäten kann man nicht hoch genug schätzen!

Raritäten im VINUM Weinguide 2023

Text: Harald Scholl, Fotos: Linda Pollari Fotografie, Armin Faber, z.V.g.

Die Verkostungen zum VINUM-Weinguide 2023 laufen auf Hochtouren, in den nächsten Wochen werden die endgültigen Bewertungen der deutschen Weinjahrgänge 2020 und 2021 getroffen und im Bundesfinale werden die besten Weine des Jahres gekürt. Zum jährlichen Prozedere gehören auch Verkostungen von älteren Jahrgängen. Eine Besonderheit des VINUM-Weinguide, die man gar nicht hoch genug schätzen kann.

«Der Jahrgang 2012 war für uns Winzer ein unproblematischer. Es war weder zu trocken noch zu nass, weder zu heiss noch zu kalt. Diese Eigenschaften zeigten auch die besten Riesling-Spätlesen des Jahrgangs. Durch die zurückhaltende Charakteristik des Jahrgangs 2012 wird die Handschrift der Winzer und des Terroirs umso leichter schmeckbar.»

Valentin Rebholz

Der Ort ist allen VINUM-Verkostern seit langem bekannt: Albersweiler in der Südpfalz, das Wohnhaus von Joel B. Payne, langjähriger Chefredakteur des VINUM-Weinguide. Im Verkostungsraum stehen 43 Schlegelflaschen auf dem Tisch, Payne hat die Flaschen bei den Winzern und Betrieben angefordert und eingekühlt. Zu den Verkostern gehören neben den aktuellen Chefredakteuren des VINUM-Weinguide, Matthias F. Mangold und Harald Scholl, diverse andere Verkoster, dazu Winzer wie Valentin Rebholz, Johannes Selbach oder Johannes Jülg. Diese kommen aber immer nur aus Betrieben, die keine eigenen Weine im Rennen haben. Alle Weine hatten seinerzeit im Weinguide 2019 mindestens 94 Punkte erhalten, gehören also unbestritten zur nationalen Spitze. Weit überwiegend kommen die Weine aus Rheinhessen, dem Rheingau, der Nahe, der Pfalz und von der Mosel. Es war das erste Jahr, in dem auch die Mosel mit trockenen Rieslingen ganz oben mitspielen konnte, es gab mehr als nur ein, zwei Weine im Bereich von 93 oder mehr Punkten. Die Weingüter Van Volxem, Clemens Busch oder Knebel sorgten für regelrechtes Aufsehen bei den damaligen Finalrunden. Aber der absolute Überflieger war damals einmal mehr Klaus Peter Keller, der gleich viermal (!) in der Top-10-Liste auftauchte. Und der damals zu berichten wusste: «Wir haben Tag und Nacht für ein paar Liter geschuftet. Aber die schmecken toll!» Das liess sich damals mit Fug und Recht unterstreichen, bis auf 98 Punkte liefen die Wertungen für trockene Rieslinge hoch. Ein Novum in der klassisch, sehr konservativ wertenden VINUM-Weinguide-Geschichte.

«Wer sich wirklich für deutschen Wein interessiert, kommt an den Verkostungen «5 Jahre danach» nicht vorbei. Denn erst mit der Reife zeigen diese Weine – wie alle grossen Weine der Welt –, was wirklich in ihnen steckt.»

Harald Scholl

«2017 ist sicher einer der besten Jahrgänge für trockene, deutsche Top-Rieslinge. Man muss ihnen nur noch ein wenig Zeit geben, im Moment scheinen viele sich zurückgezogen zu haben. Aber ich bin sicher – sie kommen wieder!»

Joel Payne

«Bei den ‹Spätburgundern 10 Jahre danach› wurde einem wieder einmal vor Augen geführt, welche Entwicklung in den letzten zehn Jahren stattgefunden hat. Waren damals Fürst und Huber eine Liga für sich, so ist das Feld heutzutage deutlich enger zusammengerückt. Auch hier ein spannendes Duell zweier grossartiger Pinot Noirs an der Spitze.»

Matthias Pohlers

Nun also die Probe aufs Exempel, die Frage, ob sich der damalige Eindruck auch mit ein paar Jahren Flaschenreife hält. So viel sei vorab, also vor Veröffentlichung des VINUM-Weinguide im November, verraten: An die grossartigen Ergebnisse von damals konnten nicht alle Weine heranreichen. Dafür gab es einen profanen und zwei gute Gründe. Der profane vorweg: Damals war der G-Max von Klaus-Peter Keller der beste trockene Riesling des Jahres. Leider war keine Flasche des Weins mehr für uns verfügbar, die Preise auf dem Sekundärmarkt machen es auch für Verkoster schwierig, an solche Preziosen zu kommen. Die anderen Gründe für den veränderten Eindruck sind ebenfalls schnell erklärt. Zum einen schienen einige Weine doch schon relativ weit in ihrer Entwicklung zu sein, sie wirkten in der Nachprobe gereift und wenig strahlend. Und zweitens scheinen viele 2017er Rieslinge derzeit in einem Tief zu stecken. Das liegt aber durchaus im Trend, viele der grossen Gewächse brauchen üblicherweise drei bis vier Jahre, bis sie aus dem ersten aromatischen Loch herauskommen. Ein Phänomen, das sich bei vielen, auch internationalen, Spitzenweinen ebenfalls – wenn auch mit anderen Zeitabständen – beobachten lässt. Vielleicht braucht der 2017er einfach noch ein Jahr, vielleicht zwei oder drei Jahre mehr, um zu absoluter Höchstform aufzulaufen. Vielleicht ist auch das ein Zeichen seiner Qualität? Denn der 2017er war einer der am höchsten bewerteten Riesling-Jahrgänge aller Zeiten im VINUM-Weinguide. Das zeigte sich auch bei dieser Nachprobe, in der Spitze wurden, wie damals, 98 Punkte erreicht. Und das gleich von drei Weinen, die ihr damaliges Ergebnis allesamt sogar deutlich übertrafen. Die Beschreibungen der Top 3: Der Riesling Westhofener Abtserde Grosses Gewächs von Klaus Peter Keller (Rheinhessen) zeigte sich herzhaft und dennoch gediegen. Seine filigrane Frucht, gepaart mit Kräutern und verspielter Säure, liess ihn elegant und animierend erscheinen. Unser Platz 3. Davor die damalige Nummer 2, wieder auf Platz 2: Riesling Birkweiler Kastanienbusch Grosses Gewächs vom Weingut Ökonomierat Rebholz (Pfalz). Der gleiche zarte Duft wie vor fünf Jahren, auch wenn er von Rosen zu wilden Kräutern gewechselt hat. Zartgliedrige Frucht mit seidiger Textur und sublimer Würze. Leichtigkeit und Finesse pur. Überraschend auf Platz 1 und deutlich stärker als bei der ersten Begegnung: Der Nackenheimer Rothenberg Riesling Wurzelecht Grosses Gewächs von Carolin Kühling-Gillot (Rheinhessen). Mit subtiler Aromatik, feingewoben und in sich stimmig, überzeugte der Wein vor allem mit unnachahmlicher Frische, seiner geradezu offensiven Präsenz. Die edle Fruchtdichte, die belebende Frische, gepaart mit rassiger Würze, und der minutenlange Nachhall, sorgten für Begeisterung. Was für ein Wein!

Mehr als nur ein guter Grund

Es gibt eine ganze Reihe guter Argumente, warum sich das Team des VINUM-Weinguide neben den aktuellen Jahrgängen alljährlich bestimmte Weintypen mit fünf, zehn oder sogar 20 Jahren Reife anschaut. Da wäre zum Ersten die Entwicklung im deutschen Weinmarkt und die Tendenz der deutschen Premiumbetriebe, die besten Weine erst zwei oder mehr Jahre nach der Ernte auf den Markt zu bringen. Begonnen haben damit viele VDP-Weingüter, die ihre grossen Weine – gerade auch die trockenen Rieslinge – erst zwei Jahre nach der Ernte auf den Markt bringen. Das Gut Hermannsberg von der Nahe geht in diesem Jahr sogar noch einen Schritt weiter und wird den Riesling Kupfergrube Grosses Gewächs 2017 erstmals im September 2022 (!) auf den Markt bringen. Aus Sicht des Winzers Karsten Peter ist das exakt der Zeitraum, den der Wein benötigt. Seiner Erfahrung nach entwickeln die Rieslinge aus der Kupfergrube frühestens nach fünf Jahren ihre komplexe Aromatik. Um diesen Wein im Kontext mit seinen Jahrgangsrivalen beurteilen zu können, braucht das VINUM-Weinguide-Team entsprechend Zeit. Fünf Jahre danach nivelliert sich also zum ersten Mal das unterschiedliche Anstellverhalten.

Die Verfügbarkeit ist ein weiterer Grund für diese Raritätenproben. Fünf Jahre nach dem Erscheinen findet man viele der Weine noch auf dem Markt, sei es im Weinhandel oder auch auf den Weingütern. Diese Proben bringen also durchaus einen praktischen Nutzen für den Weinfreund, denn bei Interesse lassen sich diese Weine noch käuflich erwerben. Auch der private Sammler, der einen oder mehrere dieser Weine schon im Keller hat, dürfte sich über eine aktuelle Bewertung freuen. Vor allem, weil er dafür seine eigenen Bestände nicht angreifen muss. Es gibt also mehr als einen nachvollziehbaren Grund für diese Art der Verkostung.

Gereifte Weine wie in den Proben zu «5 Jahre danach» zu verkosten, ist immer eine Herausforderung. Denn neben der schwer einzuschätzenden Frage, ob ein Wein die beste Zeit hinter sich hat oder nur eine Verschlussphase durchmacht, ist auch die Korkfrage bei Weinen aus den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts immer wieder bedeutungsvoll. So gab es bei den Verkostungen in diesem Jahr Kategorien, in denen von 38 Weinen immerhin acht einen eindeutigen Korkfehler hatten. Im Fall des «Riesling trocken 5 Jahre danach» waren es nur drei Weine, bei denen bei einem Wein auch die Konterflasche denselben Fehler hatte. Noch fataler waren die sogenannten «Schleicher». Das heisst, dem Wein konnte nicht ein eindeutiger Korkfehler zugewiesen werden, aber irgendwie zeigte er nicht das, was er in den Proben vor fünf Jahren offenbarte. Adjektive wie «müde», «verwaschen» oder «einfach langweilig» tauchten in den Kommentaren auf. Wenn hier die Konterflasche eine deutlich bessere Performance zeigte, lag der Verdacht nahe, dass dies auch hier dem Zustand des Korkens geschuldet war. Was das Thema noch verwirrender machte:

In der Kategorie «Andere Rotweine 5 Jahre danach», einer Kategorie, die zum ersten Mal verkostet wurde, war davon nichts zu spüren, hier waren durchweg alle Korken einwandfrei. Im Gegenteil, auch die festen und durchweg hochklassigen Korken liessen den Eindruck entstehen, dass es sich hier um eine Neuweinprobe handelte. Viele der Weine standen in der Tat erstmals auf dem Tisch, zum Erscheinungsdatum des Weinguide 2019 – in dem alle hier beschriebenen Weine erstmals verkostet wurden – waren sie noch gar nicht abgefüllt. Da es sich häufig um kräftigere, intensivere Rotweine handelte, präsentierten sich viele noch jugendlich. Das konnte man nicht vom Frühburgunder Bürgstadter Berg 2017 des Weinguts Rudolf Fürst (Franken) behaupten. Was für ein filigraner und eleganter Wein! Zarter Himbeerduft, dem Gaumen schmeichelnder Fruchtkern über kühler Mundmitte, zart, verspielt und unerhört komplex. Ohne Frage der beste Wein dieser Kategorie. Nicht schlechter, allerdings deutlich anders die Nummer Zwei, ein Fellbacher Lämmler Lemberger Grosses Gewächs vom Weingut Aldinger (Württemberg). Mit markantem Lavendelduft, wilder Frucht, feiner Sauerkirsche, lebhaftem Charakter, voller Substanz, Tiefe und Länge – ein energischer Wein, der noch lange nicht am Ende zu sein scheint. Und auf dem dritten Platz der Syrah Jaspis von Hanspeter Ziereisen (Baden). Sein sortentypisches, pfeffriges Aroma, die saftige Brombeerfrucht, die kühle, beinahe tänzelnde Art, mit gut eingebundenem Holz, liess die Verkoster an die nördliche Rhône denken.

So weit, so gut. Mehr kann noch nichts verraten werden. Auf die genauen Ergebnisse und die Listen aller verkosteten Weine muss man noch ein wenig warten, der VINUM-Weinguide 2023 wird am 3. November 2022 in Mainz der (Wein-)Öffentlichkeit vorgestellt. Allen Ungeduldigen, die es nicht abwarten können, sei Konfuzius ans Herz gelegt: «Ist man in kleinen Dingen nicht geduldig, bringt man die grossen Vorhaben zum Scheitern.»

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