Eine Art Insider-Wein, qualitativ auf der Höhe der Besten

Haut-Bailly: die ganz besondere Vertikale

Text & Fotos: Rolf Bichsel

Fazit unserer Querverkostung von vier besonders klassischen Jahrgängen der letzten vier Jahrzehnte: Ihr Resultat verblüffte selbst Verwalterin Véronique Sanders und Weinmacher Gabriel Vialard!

Den Satz «Auf Haut-Bailly gelingen die so genannten kleinen Jahrgänge ausgezeichnet» hört man in Bordeaux immer wieder. «An sich ist das ja erfreulich,» merkt Véronique Sanders an, «doch wer immer das sagt, vergisst anzufügen, dass hier auch Spitzenjahre klasse sind!» Es stimmt schon: Haut-Bailly galt lange als eine Art Insider-Wein, qualitativ auf der Höhe der Besten, doch kein Wein, mit dem man prahlen konnte. Kraft und Saft war auf Haut-Bailly nie ein Thema, auch nicht in den klimatisch extremsten Jahrgängen. Harmonie und Eleganz sind hier Trumpf, gepaart mit Ehrlichkeit, Präzision und Authentizität, und das wird auch weiter so bleiben.

Dass Jahrgänge, die mit der Zahl Sechs enden, den Stil von Haut-Bailly besonders gut illustrieren, belegt unsere Vertikale 1986/1996/2006/2016. «Selbst für mich ist das Resultat verblüffend,» meint Véronique Sanders. «Natürlich wussten wir, dass diese vier Jahrgänge ausgezeichnet gelungen sind. Uns erstaunt und freut, wie sehr sie auch stilmässig eine Einheit bilden», ergänzt Gabriel Vialard.

Uns geht es ähnlich. Wir kennen und schätzen Haut-Bailly seit langem und haben davon etliche Flaschen im Keller. Wir hüten sie wie unseren Augapfel, öffnen nur die ältesten, teilen sie mit Freunden, geniessen sie andächtig und fragen uns im Stillen, wie wohl heutige Weine im gleichen Stadium der Reife schmecken würden. Heute wissen wir: völlig anders nicht. Gerade die zwei Jahrgänge, die noch unter der Ägide von Véroniques Grossvater Jean entstanden sind, der bei weitem nicht die Mittel anwenden konnte, die auf dem Gut heute zur Verfügung stehen, zeigen, was ein grosses Terroir ist und warum Haut-Bailly gestern, heute und morgen nicht nur zu den grössten Bordeaux gehört, sondern zu den besten Weinen der Welt.


VERTIKALVERKOSTUNG «4 MAL 6»

1986

«Ein atypisches Jahr auf Haut-Bailly, zu hundert Prozent aus Cabernet Sauvignon gekeltert, doch niemand hat das je bemerkt», merkt Véronique Sanders an. Das ist kein Wunder, denn der Wein besitzt die Komplexität der grössten Haut-Bailly-Jahrgänge. Sein edles Bouquet von Darjeeling, Backgewürzen und einem Hauch gekochter Beeren ist trotz seines Alters ungemein verführerisch ge- blieben, die Tannine besitzen Schliff und vermitteln ausge- suchte Finesse. Ein herrlicher Wein, der ideal die Qualität des Terroirs von Haut-Bailly illustriert. Wird diese Klasse noch jahre- oder gar jahrzehntelang ausspielen.

1996

Noch ein grosses Haut-Bailly-Jahr und ein absolut klassischer, raffiniert stilvoller, eleganter Spitzenwein. Von besonderer Dichte und Rasse auch, doch nicht breit, sondern mit grosser Tiefe, wie ein Stück von geschliffenem Marmor, mit ausgesuchter aromatischer Komplexität. Die Klasse des Weins ist umso erfreulicher, wenn man bedenkt, welche Fortschritte die Weinbereitung (im Keller wie im Rebberg) seither gemacht hat.

2006

Der vielleicht erstaunlichste Wein der Viererserie. Er besitzt bereits viel Schliff, zeigt aber gleichzeitig auch noch verblüffende Jugendlichkeit, Rasse und Frische. Er beginnt fruchtig und sogar regelrecht saftig, entwickelt Samt und Seide und endet ausgesprochen lang. Ein verblüffend sinnlicher Haut-Bailly, der nicht nur intellektuell Freude macht, sondern handfesten Genuss vermittelt. Gabriel Vialard: «Jetzt weiss ich, was wir heute Abend zum Lammbraten auftischen werden!»

2016

Er mag noch in den Kinderschuhen stecken, doch bereits im Alter von sechs Jahren illustriert der 2016er perfekt den Stil des Gutes, die Präzision, mit der auf Haut-Bailly gearbeitet wird, die absolute Harmonie und Transparenz, die umwerfende aromatische Komplexität, den Schliff, den die Tannine bereits heute besitzen und gleichzeitig das enorme Reifepotenzial, für das Frische und Tiefe stehen. Kann schon in fünf, zehn Jahren geöffnet werden (aus der Karaffe genossen würde er sogar bereits munden), und wird während Jahrzehnten Freude machen.