Die nördlichste Gemeindeappellation des Médoc ist eine der grössten, aber auch eine der dynamischsten der Region

Saint-Estèphe: Natur und Vielfalt

Text & Fotos: Rolf Bichsel

Die nördlichste Gemeindeappellation des Médoc ist eine der grössten, aber auch eine der dynamischsten der Region. Die Reben profitieren hier von einem durch Gironde und Atlantik geprägten Mikroklima und einer besonders weiten Palette erstklassiger Böden.

Wer das Médoc der grossen Weine erforschen will, hat es, von Bordeaux herkommend, bis Pauillac nicht besonders schwer. Er folgt ganz einfach brav der D2, der so genannten Route des Châteaux, die sich an einer ganzen Anzahl bekannter Güter vorbei durch die Reben schlängelt. Doch kurz nach Pauillac wird die Sache komplizierter. Links oder rechts oder ganz einfach weiter geradeaus? Dem Fluss entlang oder landeinwärts an Mouton- und Lafite-Rothschild vorbei? Entscheidet er sich für die zweite Variante, wird der Reisende nach einer kurzen Berg-und-Tal-Fahrt, die ihn durch einen mit Gras bewachsenen, recht breiten Graben führt, der Jalle du Breuil genannt wird, auf die seltsame, orientalisch anmutende Weinpagode von Cos d’Estournel aufmerksam – ein erstes, unmissverständliches Indiz dafür, dass er die Appellation Saint-Estèphe unter die Räder genommen hat.

Erneut trennt sich hier die Route, und wer nicht aufpasst oder sein GPS konsultiert, riskiert schon mal, sich auf den schmalen Überlandstrassen zu verlieren. Er wird durch Weiler kurven, die Blanquet, Leyssac, Pez oder Saint-Corbian heissen, mag sich in Vertheuil wiederfinden oder in Saint-Seurin de Cadourne, muss sich folglich eingestehen, dass er bereits zu weit gefahren ist, und wird sich schliesslich fragen, ob denn ein Ort namens Saint-Estèphe überhaupt existiere. Doch die einzigen Lebewesen weit und breit, die er an einem heissen Sommernachmittag um Auskunft bitten könnte, sind drei kohlrabenschwarze Krähen, die über den Reben kreisen und den unglücklichen Reisenden laut kreischend verspotten.

Vielfalt ohne Ende

Mit seinen zahlreichen Schlössern, den von Wiesen und Wald umgebenen ­Rebbergen und seiner besonderen Nähe zum Fluss ist Saint-Estèphe die ­Quintessenz des Médoc.

Unglücklich? Eigentlich ist er das gar nicht, sondern hat ungewollt die Chance wahrgenommen, ohne lange Theorie ganz praktisch dem vielleicht wichtigsten Geheimnis von Saint-Estèphe auf die Spur zu kommen: die sprichwörtliche Vielfalt dieser ländlichen Gegend weit ab vom Lärm der Grossstadt, sowohl was Landschaft, Geologie, Ausdehnung oder Wein-Infrastruktur anbelangt. Saint-Estèphe besteht nicht nur aus rund 20 grösseren und kleineren Weilern, die sich manchmal in den Gutsnamen widerspiegeln – Ladouys, Lavillotte oder Meyney, um nur einige zu nennen – sondern auch aus einer munteren Vielfalt an Böden: Kalk, Lehm, Sand, Kies in unterschiedlichen Mischungen, mit einem besonderen Relief, das gemeinsam mit dem Fluss für ein besonderes Mikroklima sorgt. Doch davon etwas später mehr.

Nun gibt es den Ort Saint-Estèphe tatsächlich, ein so stattliches wie stilles Dorf, das auch als habliches Stadtquartier durchgehen könnte, mit erstaunlich intakter Bausubstanz. Flankiert wird es im Norden und Süden durch beeindruckende historische Weingüter wie Calon-Ségur oder Montrose. Schmuckstück des Dorfzen­trums und Stolz der 65 Weinbaubetriebe der Appellation ist heute aber zweifellos das neue Maison du Vin. Es ist geschmackvoll eingerichtet, man wird kompetent und zuvorkommend betreut. So kann man hier nicht nur jede mögliche Auskunft über die Ecke einholen, sondern auch so gut wie alle Weine der Appellation – zum Einstandspreis – erwerben.

Verlässt der Reisende dann den stillen Flecken in östlicher Richtung, wird ihm gewahr, wie nahe Saint-Estèphe am Fluss gelegen ist, hier ein stolzer Strom von über drei Kilometern Breite, der weiter ausufern wird, je näher er der Atlantikmündung kommt. Viele Reben profitieren in Saint-Estèphe ganz konkret vom ominösen Blick auf das Wasser: Doch der Einfluss der Wassermassen der Gironde spielt auch noch in den etwas weiter im Landesinneren liegenden Lagen eine tragende Rolle. Saint-Estèphe liegt rund 80 Kilometer von Bordeaux entfernt und folglich etwa auf halbem Weg zum Atlantik. Das beeinflusst das Klima positiv, aber auch die Lebensqualität. In Saint-Estèphe ist die Welt noch in Ordnung, ist die Kirche im Dorf geblieben. Sie wurde im Jahr 1764 errichtet, auf den Ruinen einer romanischen Kirche. Gewidmet ist sie dem heiligen Etienne, einem Diakon und Märtyrer des ersten Jahrhunderts, auch Stephanos, Esteban oder Estienne genannt. Was den Namen des Ortes erklärt, aber auch einen Hinweis gibt auf dessen Alter. Dem heiligen Etienne oder Sankt Stephan huldigten die ersten Christen. Bis ins 18. Jahrhundert hiess die Gemeinde ferner Saint-Estève de Calonès. Als Calonès bezeichnete man im Mittelalter kleine Kähne, wie man sie auf der Gironde zum Transportieren von Holz anwendete. Wie sagt doch ein Winzer sehr treffend: «Saint-Estèphe ist eine Tochter des Flusses.»

Entkorkte Flasche als beste Botschaft

Besiedelt wurde Saint-Estèphe schon zur Bronzezeit, rund 3500 Jahre vor Christus. Die Böden von Saint-Estèphe waren stark eisenhaltig und die Nähe zum Fluss erleichterte den Transport von Handelswaren. Unter dem Hügel des heutigen Calon-Ségur liegen Zeugen eines gallischen Oppidums. Einige Historiker vermuten gar, das Saint-Estèphe Teil der mythischen Hafenstadt Noviamagus gewesen sein könnte, die einst so gross und wichtig wie Bordeaux gewesen sei, aber wohl für immer unter den Fluten der Gironde begraben liegt.

Erste schriftliche Zeugen für den Weinbau stammen aus dem hohen Mittelalter. Die Templer besassen hier ein Hospiz, in dem Jakobspilger bewirtet wurden, und die Stelle des heutigen Meyney nahm eine im 12. oder 13. Jahrhundert errichtete Abtei ein. Die Herren von Calon oder de Pez bezogen bereits ein stattliches Einkommen aus den mit «guten Reben» bestockten Weinbergen der Umgebung. Schliesslich erbten de Pontac von Haut-Brion, Erfinder des modernen Weinbaus, Pez und verbreiteten auch hier ihre Erkenntnisse rund um Rebbau und Kelterung. Reben in Saint-Estèphe besass auch Bertrand de Goth, der als Pape Clément V. in die Geschichte eingegangen ist. Im ausgehenden 18. Jahrhundert verdrängte Weinbau alle anderen Formen von Landwirtschaft. In Saint-Estèphe liess sich mit Wein ein Vermögen verdienen. Alexandre de Ségur, als Besitzer von Latour, Lafite, Mouton und Calon «Prinz der Reben» genannt, rief aus: «Auf Latour und Lafite mache ich Wein, doch mein Herz ist auf Calon!»

Doch nicht nur der auswärtige Adel betrieb hier Weinbau. Bereits früh gab es gerade in Saint-Estèphe auch viele kleine, von ortsansässigen Bürgern verwaltete Güter. Die Zerstückelung des Weinbergs und die beträchtliche Entfernung zur Stadt Bordeaux, wo die Weinmakler ansässig waren, die für den Stellenwert der Güter zuständig zeichneten und damit für die Klassierung, mag erklären, warum sich Saint-Estèphe mit «nur» fünf Grands Crus Classés zufrieden geben muss. Das hat auch Vorteile: Die Anzahl hervorragender unklassierter Weingüter ist hier so hoch wie nirgendwo sonst im Médoc.

Landschaften prägen Mentalitäten so wie Terroirs Weine. Stellt man einem Dutzend Winzer aus Saint-Estèphe die Frage, was diese Gemeindezone von anderen Médoc-Appellationen unterscheide, antworten sie ohne vorhergehende Absprache einstimmig: «der Zusammenhalt der Winzer, der positive Geist, die Dynamik». Das erstaunt gerade angesichts der heterogenen Struktur der Appellation, der Handvoll unklassierter Güter, die sich qualitativ durchaus mit klassierten messen könnten, den vielen ausgezeichneten Crus Bourgeois, die ebenfalls nach einem Platz an der Sonne streben, der gut funktionierenden Genossenschaftskellerei. Wäre erbarmungsloser Konkurrenzkampf da nicht logisch? Doch lernt wohl gerade wer abseits lebt, auf sich selber zu zählen und dem Nachbar beizustehen. Das verbindet.

«Leute kommen nicht von selber nach Saint-Estèphe», sagt Jean-François Delon, der frisch gebackene Präsident der Appellation, «wir müssen Saint-Estèphe zu den Leuten bringen. Auf meinem letzten Salon waren wir drei Winzer aus Saint-Estèphe – drei gegen mehrere hundert aus anderen Appellationen. Solidarität ist da vorgegeben.» Bernard Audoy, einer seiner Amtsvorgänger, pflichtet ihm bei: «Wie so mancher Winzer, der vor Ort lebt, würde auch ich lieber zuhause bleiben, als ständig den Koffer zu packen und in der Grossstadt den Salonlöwen zu spielen. Doch nichts geht über den direkten Kontakt zu den Weinfreunden in aller Welt. Bester Botschafter für unsere Appellation ist eine entkorkte Flasche!»

Der direkte Kontakt zum Kunden hilft auch, etwaige Vorurteile abzubauen. Zum Beispiel die Mär von Saint-Estèphe als rustikalem oder gar animalischem Rebensaft. Sie stammt aus einer Zeit, in der man nicht die heutigen Mittel besass, sowohl in den Reben wie im Keller. «In Saint-Estèphe mit seinen teils stark lehm- und kalkhaltigen Böden ist der Anteil an Merlot im Rebsatz recht hoch. Vor der Renaissance ab den 1980er Jahren fehlte es vielen Gütern an neuen, sauberen Fässern: Merlot aus alten Fässern tendiert noch stärker zur Reduktion (und damit zu animalischer Würze) als Cabernet Sauvignon. «Mit Terroir hat das nichts, aber auch gar nichts zu tun», erklärte schon vor vielen Jahren ein bekannter Bordelaiser Weinfachmann. Es mag – bei aller Vielfalt – ein paar Gemeinsamkeiten zwischen den Weinen aus Saint-Estèphe geben: Rustikalität gehört ganz gewiss nicht dazu. Auf saubere Fässer muss heute niemand mehr verzichten. Will man Saint-Estèphe unbedingt auf den kleinsten Nenner bringen, sollte man es mit Ausdrücken wie Fruchtigkeit, Biss, Frische, Tanninschliff, Potenzial oder Komplexität versuchen.

Letztlich gibt es eine einfache Möglichkeit, sich selber ein Bild von Saint-Estèphe und seinen Weinen zu machen: Man blättere einfach zurück zum Beginn dieses kurzen Beitrags, wage den Sprung in die besondere Welt zwischen Gironde und Atlantik. Wer das tut, wird beeindruckt sein von Land und Leuten, dem Fluss mit seinen Fischerhütten, die auf Stelzen zu gehen scheinen, der pittoresken Reblandschaft mit den grossen und kleinen Schlössern, den unterschiedlichen Färbungen der Böden – kalkweiss, bläulich, rot oder steinig grau – der Lebensqualität, die man dank einer wachsenden Zahl gemütlicher Gästezimmer direkt auf den Weingütern geniessen kann. Saint-Estèphe hat heute nicht nur weinmässig noch so manches zu bieten, sondern auch als gewiss diskrete, aber abseits ausgetretener Pfade gelegene, hochklassige Reisedestination.

Cos d’Estournel, die Weinpagode

Die Geschichte eines Visionärs

Cos d’Estournel gehört zu den legendärsten Bordeaux-Gütern überhaupt. 1855 wurde es als Deuxième Cru klassiert, doch Insider zählen es zu den so genannten «Superseconds», die qualitativ durchaus mit Premiers Crus mithalten können.

«Cos» kommt von «Caux», «Kies» im alten Dialekt. Das von Louis Gaspard Estournel gegründete Gut sitzt tatsächlich ganz oben auf einem mit tiefgründigem Kies bedeckten Hügel, genau gegenüber von Lafite-Rothschild. Cos d’Estournel ist so zum Symbol und Tor der Appellation Saint-Estèphe geworden, die hier ihren Anfang nimmt.

Als Louis Gaspard d’Estournel 1791 den Landsitz zwischen Pauillac und Saint-Estèphe erbt, zählt dieser nur erst 14 Hektar Reben. Doch rasch erwirbt der waghalsige Unternehmer weitere erstklassige Lagen und erweitert das Gut so auf stolze 45 Hektar. Über seinem Château und seinem Keller lässt er monumentale Pagoden errichten, als Symbol dafür gedacht, dass sein Wein bis weit in den Orient gesucht sei, und führt zahlreiche technische Neuerungen ein.

Das Werk des Gründers führt heute mit Tatkraft der Unter- nehmer Michel Reybier fort. Er schreibt so das nächste Kapitel dieser spannenden Erfolgsgeschichte und sorgt dafür, dass auch künftige Generationen sich an diesem einmaligen, geheimnisvoll raffinierten, eleganten Wein erfreuen können.

Terroir und Lagen

1250 Hektar stehen in Saint-Estèphe unter Reben. Das entspricht immerhin 7,5 Prozent der gesamten Anbaufläche der Weinhalbinsel. Saint-Estèphe ist – nach Margaux – die zweitgrösste der sechs Gemeindeappellationen des Médoc. Zwar dominiert der Cabernet Sauvignon mit rund 50 Prozent knapp den Sortenspiegel: Doch mit 40 Prozent ist der Anteil an Merlot hier bedeutend. Das ist nicht etwa einem Spleen der Winzer zu verdanken, sondern der Tatsache, dass diese Sorte auf den stärker lehm- und kalkhaltigen Böden und dem durch die Gironde gemilderten Kleinklima besonders gute Bedingungen vorfindet. Der Cabernet Franc bringt es auf sieben Prozent, mehr und mehr bedrängt durch den Petit Verdot, der sich steigender Beliebtheit erfreut.

Nebenstehende Karte illustriert gut das Relief der Appellation mit dem Kalkplateau im Westen, den durch die Jalles, die Gräben, getrennten Kieskuppen, die auf knapp 30 Metern über der Gironde und damit der Meereshöhe kulminieren und natürlich die besondere geologische Vielfalt der Appellation. Rund zwei Drittel der Appellation liegen auf mehr oder weniger mit Lehm und Sand durchmischtem Geröll, das der Fluss vor rund zwei Millionen Jahren aus den Pyrenäen anschleppte und hier in Form von flachen Hügeln ablagerte, die eine optimale natürliche Drainage fördern.

Nachteil reiner, tiefgründiger Kiesböden ist gemeinhin die mangelnde Resistenz gegen hochsommerliche Trockenheit. Das wird in Saint-Estèphe durch den besonders lehmhaltigen Untergrund korrigiert. Nicht nur Lehm speichert die Feuchtigkeit, auch die kalkhaltigen Zonen des Plateaus aus Sedimenten des urzeitlichen Meeres, das vor 50 Millionen Jahren weite Teile Europas bedeckte, regulieren besonders gut den Wasserhaushalt der Böden.

Ein besonderes Mikroklima

Ein weiterer wichtiger Faktor, der den Stil der Weine von Saint-Estèphe prägt, ist die besondere Nähe zum Fluss. Spätfröste sind selten in Saint-Estèphe, selbst in den letzten Jahren. Wer sich an 1991 erinnert, weiss, das Güter wie Montrose oder Meyney in diesem Frostjahr Weine abfüllten, die zu ihren besten Jahrgängen zählen, und Weine aus anderen Appellationen weit hinter sich liessen. Überhaupt gelingen oft gerade so genannt kleinere, das heisst, unter klimatisch schwierigeren Bedingungen entstandene Jahrgänge in Saint-Estèphe besonders gut.

Die Wassermassen sorgen ferner nicht nur für einen guten Temperaturausgleich, sondern auch für fast stetig wehenden Wind. Die Trauben werden so besonders gut belüftet und auf natürliche Weise vor Pilzbefall geschützt.

Die Weingüter

1. Château Bernard Magrez

2. Château Calon Ségur

3. Château Capbern

4. Château Cos d’Estournel

5. Château Cos Labory

6. Château de Pez

7. Château L’Argilus du Roi

8. Château Laffitte Carcasset

9. Château Lafon Rochet

10. Château Lavillotte

11. Château Le Crock

12. Château Lilian Ladouys

13. Château Meyney

14. Château Montrose

15. Château Phélan Ségur

16. Château Ségur de Cabanac

17. Château Tour Saint-Fort

18. Château Tronquoy Lalande