Klartext von Harald Scholl über bürokratisches Versagen

Unerfüllte Versprechen nach der Flutkatastrophe an der Ahr

Text: Harald Scholl

Diesen Klartext hätte ich mir von Herzen gerne gespart. Denn es ist wahrlich kein besonderes Vergnügen, über die unfassbaren Verfehlungen im Nachgang der Flutkatastrophe an der Ahr zu schreiben.

Es ist schlicht beschämend zu sehen, wie wenige von den gemachten Versprechungen bis heute eingelöst wurden, wie die Menschen auch ein Jahr danach immer noch in Notunterkünften und Verlegenheitslösungen untergebracht sind, wie sie mit den wenigen Mitteln die ihnen geblieben sind, einen funktionierenden Betrieb zu gewährleisten versuchen. Nur die wenigsten von uns können sich vorstellen, wie es sich anfühlen muss, praktisch alles verloren zu haben und trotzdem nicht aufgeben zu können. Denn wir sprechen an der Ahr von Menschen, die direkt oder indirekt mit dem Wein verbunden sind. Also von Menschen die eine ganz andere Beziehung zum Land haben, als sich das viele Städter vorstellen können. Für die meisten von ihnen ist das Wort «Heimat» eben sehr viel mehr als nur ein Wort.

Blockierte Spenden in Millionenhöhe 

Mit diesem Wissen im Hinterkopf macht es einfach sprachlos – oder ist es nicht doch eher Wut? – zu sehen, wie der deutsche Amtsschimmel eine Pirouette nach der anderen dreht, ohne vom Fleck zu kommen. Die aus der Winzerschaft heraus initiierte Aktion «SolidAHRität» schaffte es mit Wein-Spendenpaketen innerhalb weniger Wochen sagenhafte 2,5 Millionen Euro einzunehmen. Geld, das an der Ahr dringend gebraucht würde, um Maschinen und Material zu kaufen, um die nächste Ernte auf den Weg bringen zu können. Aber dieses Geld liegt bis heute auf den Konten der Initiatoren, die Finanzämter schaffen es nicht, die Summe ohne Einzug der Umsatzsteuer an die Winzerinnen und Winzer zu überweisen. Denn an Privatpersonen kann nicht gespendet werden, das Geld müsste als Einnahme versteuert werden. Dabei hat das Bundesfinanzministerium per Dekret angeordnet, unbürokratisch und schnell solche Gelder direkt und ohne Abzüge an die Betroffenen fliessen zu lassen. Vor Ort verschanzt man sich hinter irgendwelchen Verordnungen und Vorschriften oder schlichtweg hinter der Sorge, dass man bei wechselnden politischen Verantwortlichkeiten doch zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Das Beispiel der «SolidAHRität»-Aktion ist kein Einzelfall. Selbst die Frage, ob ein gespendeter Traktor nicht eine geldwerte Einnahme ist und somit steuerlich anzurechnen sei, steht noch im Raum.



Das Perfide an diesen Verwaltungskatastrophen ist, dass es nicht nur bei den Betroffenen an der Ahr für Verzweiflung sorgt. Auch bei den Helfern und Spendern ist eine gewisse Frustration zu spüren; wer wollte es ihnen auch verdenken! Mit wochenlangem Einsatz wurde geholfen, wurden Spenden eingeworben, Pakete gepackt und versandt, wurde Werbung für die Aktion gemacht. Und so ist dieser Klartext mehr als nur eine dringende Bitte. Er ist die Aufforderung an die Verantwortlichen auf allen Ebenen, endlich zu handeln, an die Zuständigen vor Ort, ihr Sicherheitsdenken aufzugeben, an die freiwilligen Helfer, nicht nachzulassen, und an die betroffenen Menschen vor Ort, nicht zu verzweifeln. Wir haben euch nicht vergessen, wir müssen nur immer wieder daran erinnert werden, wie viel Arbeit auch ein Jahr danach noch zu tun ist.

Sie lassen sich nicht hängen

Denn das macht es fast unerträglich peinlich für den regelmässigen Beobachter, zu sehen, wie unermüdlich die Menschen an der Ahr sich ihrer Herkulesaufgabe stellen. Sie gehören eindeutig nicht zu den Wehklagenden, sie packen an, tun alles Erdenkliche, um sich und den Nachbarn zu helfen, sie blicken nach vorn und ergehen sich nicht in Schuldzuweisungen oder Anklagen. Und nicht wenige von ihnen gehen sogar noch einen Schritt weiter und überlegen bereits jetzt, wie eine andere, eine neue Ahr aussehen könnte. Wie sie moderner, ökologischer, lebenswerter sein könnte. Das können und das sollten wir alle unterstützen, indem wir die Winzerinnen und Winzer, die Gastronomen und die Händler besuchen, wir in den verbliebenen Hotels übernachten, in den Restaurants essen gehen und auf den Weingütern einkaufen, kurzum ihrem Alltag ein Stück Normalität zurückgeben. Meine Kollegin Alice Gundlach, die für uns an die Ahr gefahren ist und wirklich eindringliche Impressionen mitbrachte, hat eine Liste von Betrieben zusammengestellt, die schon wieder Besucher empfangen können. Fahren Sie bitte hin, seien Sie Tourist, freuen Sie sich auf tolle Küche, erstklassige Weine und unerhört tapfere Menschen. Zeigen Sie den Menschen, dass wir sie nicht vergessen haben. Genau jetzt, ein Jahr danach, ist der perfekte Zeitpunkt dafür.

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