Thomas Vaterlaus spricht Klartext über die «heissen Jahre»

«Warmer Jahrgang = Jahrhundertwein? Dieser Quatsch muss aufhören»

Text: Thomas Vaterlaus

Viel Sonne = reife Trauben = gute Weine. So simpel war das Winzer-Metier früher. Doch in Zeiten der Klimaerwärmung wird es auch nördlich der Alpen den Reben öfter mal zu heiss. Trotzdem werden immer noch die warmen Jahre zu Jahrhundertjahrgängen hochstilisiert. Dieser Quatsch muss aufhören!  

Die Schlechten sind die Guten  

«Unser deutscher Sommer ist nur ein grün angestrichener Winter», soll der Dichter Heinrich Heine gesagt haben. Nun, Heinrich Heine lebte von 1797 bis 1856. Ist also schon ein Weilchen her. Und ja, die Zeiten haben sich geändert und das Klima auch. In manchen Jahren werden die Blauschiefer-Platten am Mittelrhein schon mal so heiss, dass man auf ihnen ein Spiegelei braten kann, während die Trauben an den Stöcken vor sich hin dampfen. Das Resultat sind pomadige Weine, selbst aus Sorten, die gemeinhin für Frische stehen wie Riesling oder Pinot Noir.

Natürlich haben die Topwinzer inzwischen gelernt, den heissen Jahren mit zahlreichen Tricks und Kniffen ein Schnippchen zu schlagen und trotzdem trinkbare Weine in die Flaschen zu bringen. So sind im Hitzejahr 2003 einige erstaunliche rote Burgunder-Grand-Crus entstanden. Doch diese Weine sind eher die Ausnahme, die bestätigt, dass 2003 in Mitteleuropa für Anhänger von Eleganz und Finesse ein Jahr zum Vergessen war.

Denkt man diese Sache konsequent weiter, müssten die bis heute in Mitteleuropa hochgelobten, weil warmen Jahrgänge wie 2003, 2011, 2015 oder 2018 auf allen Jahrgangstabellen oder international ausgedrückt «Vintage Charts» zurückgestuft werden, von «hervorragend» auf allenfalls «mittelmässig». Und die bisher «mittelmässigen» Jahre müssten dann folgerichtig aufgewertet werden.



2019 sollte Pinot-Spitzenjahr sein, nicht 2018!

Und siehe da: Für Pinot-Liebhaber wäre plötzlich nicht mehr 2018 das Superjahr, sondern 2019. Hat jemand etwas dagegen? An gewissen Abenden, wenn ich mit Freunden bei viel Chablis Premier Cru (natürlich nur aus kühlen Jahrgängen) am Küchentisch sitze und darüber philosophiere, mit was für einer Idee man selbst kurz vor dem Rentenalter noch viel Geld verdienen könnte, kommt immer mal wieder eine App zur Sprache, eine App, bei der jeder Weinliebhaber ein Profil der von ihm bevorzugten Weine anlegen könnte. Die App würde dann sowohl dem Mächtigkeitstrinker als auch den Frische-Predigern konkrete Empfehlungen bezüglich Winzern, Sorten, Anbaugebieten und eben auch Jahrgängen anzeigen.

Man könnte in der Suchfunktion also beispielsweise «gnadenlos frisch und gereift weiss» eingeben und bekäme dann alle weissen Burgunder oder deutschen Rieslinge, die diesem Raster entsprechen, ausgespuckt. Diese individualisierte Jahrgangsbewertung würde die gegenwärtigen Pauschalverdikte ablösen. Doch bis es irgendwann mal soweit ist, wäre eine grundlegende Revision der Jahrgangsbewertungen dringendst angesagt.

«Jahrhundertjahrgang» ade

Dass temperaturmässig in Bezug auf die Weinqualität weniger oft mehr ist, hat mich – wenig überraschend – zuerst die Champagne gelehrt. Das Haus Krug lancierte um die Jahrtausendwende zuerst den reichhaltigen 1989er Vintage und liess den gnadenlos frischen und temperamentvollen 1988er noch ein Weilchen im Keller liegen. Als Remi Krug im Rahmen eines denkwürdigen Wine & Dine in der Fondation Beyeler bei Basel diese beiden Jahrgänge im direkten Vergleich präsentierte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Da war dieser feinziselierte, überaus geradlinig knackige 1988er, neben dem der 1989er fast schon etwas belanglos und platt wirkte.

Das Champagner-Haus Krug erkannte schon früh das Potential kühlerer Jahre

Was das legendäre Champagnerhaus also schon vor über 30 Jahren erkannte, nämlich dass weniger Hitze zu mehr Qualität und Alterungspotenzial führt, sollte heute endlich zur allgemeingültigen Regel werden. Übrigens: Im Jahr 2020 wiederholten wir im Freundeskreis den Vergleich dieser beiden Krug Millésimes. Es war keine grosse Überraschung, dass sich der 1988er qualitativ nochmals ein gutes Stück vom 1989er abgesetzt hatte.

Natürlich gibt es in dieser Frage keine absoluten Wahrheiten. Die Fraktion der Mächtigkeitstrinker wird am 1989er Krug mehr Freude haben als am ultrafrischen 1988er. Auch die deutschen oder helvetischen Dickschiff-Weine der Jahrgänge 2015 und 2018 haben viele Anhänger. Zudem haben die letzten Jahre in Bezug auf Klimaerwärmung und Hitzestress eine leichte Entspannung gebracht, die Winzer hatten mehr mit anderen Problemen zu kämpfen.

«Hitzejahre mögen gut sein für Nacktwanderer und Solarenergie-Erzeuger»

Doch das nächste Hitzejahr wird kommen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Wenn es so weit ist, sollten wir die Verwendung des Ausdrucks «Jahrhundertjahrgang» als strafbare Handlung deklarieren. Hitzejahre mögen gut sein für Nacktwanderer und Solarenergie-Erzeuger, für Weinliebhaber werden sie mehr und mehr zum Desaster.

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