VINUM-Profipanel | Naturweine ungeschwefelt

Nix rein – nix raus

Text: Claudia Stern, Fotos: Hubert Hecker

Naturweine sind rein, pur, transparent. Die Winzer erzeugen Unikate, die nichts mit den Produkten der Lebensmittelindustrie zu tun haben. Doch der Umstieg zum Naturweintrinker geht nicht unbedingt von heute auf morgen. Dabei nimmt die Zahl der «natürlichen Spitzenweine» kontinuierlich zu. Wer sie geniessen möchte, muss wissen: Die Winzer leben in Balance mit ihren Weinbergen, und sie kultivieren ihre Lagen unter dem Banner der Ganzheitlichkeit. Bio – oder biodynamischer Weinbau – ist für Naturwein unabdingbar. Ein bisschen Natur geht nicht beim Naturwein, wie der Name schon sagt. Es braucht Natur – und viel Zeit. Entweder – oder.

Der Wein, der alle in der Vorrunde wie auch im Finale gleichermassen begeistert hat, war der Riesling Sterntaucher 2017 von Jacob Tennstedt. Obwohl die beiden Flaschen zwischen Vorrunde und Finale in der Farbe unterschiedlich waren, hat der Riesling so viel Tiefe, Kraft und Cremigkeit und initiierte bei den Verkostern etwas Besonderes. Alle gerieten sofort ins Schwärmen, denn bei diesem Riesling wird das Bild vom Naturwein rund.

Bei meinem spontanen Besuch bei Jacob Tennstedt erzählte er mir, dass er bei Áthenais Béru gearbeitet hat. Eine schöne Geschichte, denn beide Weine haben die Jury nachhaltig beeindruckt. Áthenais arbeitete zunächst in der Finanzbranche, Jakob als Koch in Italien. Erst als die verpachteten Weinberge wieder zur Disposition standen, kehrte Áthenais energiegeladen nach Hause zurück, um auf den kargen Kimmeridgeböden wunderschöne Chablis zu vinifizieren. Mehr und mehr experimentiert Áthenais mit maischevergorenen und ungeschwefelten Weinen und die Qualitäten sind erstaunlich. Der Chablis spiegelt Eleganz, Klarheit und Tiefgründigkeit wider. Ein echter Chablis!

Naturweine, auch «Raw Wine», «Naked Wine» oder «Vin Naturel» genannt, werden so natürlich wie nur möglich hergestellt. Der Winzer nutzt keine chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmittel und arbeitet im Keller mit minimalen Eingriffen. Eigentlich ist es ganz wunderbar altmodisch. Viel Zeit und Geduld, den Rest macht die Natur.

Der Geschmack von Naturweinen wird zum einen durch die Spontangärung geprägt, zum anderen durch den Verzicht auf Schwefel.

Die Verkoster in beiden Runden waren sich einig, dass die Rebsorte oft nicht direkt erschmeckbar ist. Vielmehr sind sich alle umso sicherer, dass man das Terroir und die Signatur des Winzers schmeckt.

DIE Rebsorte gibt es nicht, denn der Wein verliert durch die Gärung mit Traubenkernen, -stielen und -haut sehr oft seinen rebsortentypischen Charakter. Daher liegt es ganz am Winzer, welche Rebsorte er verwendet: von Syrah, Merlot, Riesling über Silvaner bis hin zu Burgundersorten. Das Gleiche gilt auch für Amphorenweine, hier kann der Winzer frei wählen. Allerdings behalten aromatische Weine wie Gewürztraminer, Muskateller und Sauvignon Blanc noch am ehesten ihren rebsortentypischen Geschmack. Unser Tipp ist auf jeden Fall für Einsteiger: Wählen Sie Muskateller oder Savagnin und Sie werden begeistert sein. Eine wichtige Rolle spielt die Spontanvergärung des Weins. Anders als bei den meisten herkömmlichen Weinen wird keine Reinzuchthefe verwendet, um die Gärung einzuleiten, sondern natürlich vorkommende (wilde) Hefen, die sich auf der Beerenhaut und im Keller befinden.

Der Muscat Freyheit von Gernot Heinrich ist als Cuvée aus Muskat Ottonel, Weissburgunder und Chardonnay unser strahlendes Paradebeispiel für Naturweineinsteiger. Dazu möchte ich erzählen, dass Gernot und Heike Heinrich auf über hundert Hektar Naturweine rund um Gols und am Leithaberg produzieren. Das ist eine unglaubliche Arbeit und Verantwortung. So klein wie bei Jakob, so gross wie bei den Heinrichs, es braucht echte Macher und ganzheitliche Denker.

Preise

Wir haben Weine zwischen 11 und 82,50 Euro (13 bis 89 Franken) verkostet. Das zeigt, dass die Winzer sich unglaublich engagieren, aber den Wein nach Arbeit, Lagerzeit und Lage fair und angemessen berechnen. Hier sind keine Marketingkosten eingerechnet. Man findet oft ein so faires Pricing, dass man sich mehr als freuen kann, hier absolute Handarbeit zu erhalten.

Zum ganzheitlichen Denken gehört, ehrlich und geradlinig zu sein. Naturweine sollen kein Luxus sein. Bei Manu Vincent von Les Deux Terres hat uns der Merlot Silène absolut begeistert. Wenn man den vorherigen Jahrgang mochte, kann man blind den nächsten kaufen. Surk-ki Schrade von La Vincaillerie hat hier für 13 Euro seit Jahren einen Schatz in ihrem Angebot.

Einkaufen

Wenn der Winzer zugibt, dass er sich an einen Naturwein mal rangetraut hat, einfach probieren und ihn fragen, was ihn dazu bewegt hat. Jeder Winzer muss einmal beginnen. Das wird von den Naturweinfreaks manchmal verurteilt. Es gibt deutlich mehr Winzer, die stark umdenken und diesen Schritt gehen. Unser Tipp ist auf jeden Fall, zu den Menschen zu gehen, die das im Weinhandel und auf den Weingütern schon lange ganzheitlich leben. Dort werden Sie bestens beraten. Und die Weine müssen Ihnen schmecken, das sollte doch der Hauptantrieb bleiben.

Landwein

Eine Hürde für die Weine ist ihre Bezeichnung als Landwein. Aufgrund der oft sorten- und gebietsuntypischen Weine, die zum Teil auch noch Trübungen aufweisen, müssen die Weine als Landwein vermarket werden, da sie keine amtliche Prüfnummer erhalten. Wir sehen aber, dass Frankreich, Spanien und Italien mit der Vergabe von Herkunftssiegeln viel weiter sind. Da wird sich auch in Deutschland einiges entwickeln. Es zählt die Handschrift des Winzers, ganz egal ob Landwein oder Qualitätswein.

Jokerwein

Wir hatten einen wunderbaren Lambrusco nach der Verkostung. Lambrusco ist wieder in aller Munde und Lorenzo Simoni ist mit seinem Grasparossa auf der Spitze der Welle. Lorenzo macht seinen Wein in einem kleinen Keller, während auf der Wiese vor seinem Bauernhof die Gänse schnattern. Sein Grasparossa di Castelvetro DOC wird in der Flasche vergoren und ohne Schwefelzusatz fertiggestellt. Feiner, pinker Schaum steht im Glas, es duftet nach reifen Kirschen, Brombeeren und schwarzem Tee. Am Gaumen reichhaltig und saftig, komplett trocken ausgebaut. Eine köstliche Entdeckung von Master of Wine Konstantin Baum (www.meinelese.de).

Um dem Kater vorzubeugen, heisst es: viel Wasser trinken, nicht zu viel Wein, ausreichend schlafen. Der Grund: Hinter den Kopfschmerzen wird neben dem Alkohol auch der Schwefel (SO2) im Wein als Ursache vermutet. Doch bei bewusster Winzer- und Weinauswahl liegt es selten am Wein. Denn Schwefel gehört zu unserem Leben dazu.

Präzision im Weinberg

Wir haben uns bei dieser VINUM-Panelverkostung dazu entschlossen, die Weine ohne Schwefelzugabe bei Winzern und Händlern anzufordern. Die Frage, die sich nun stellt, ist, warum Schwefel wann in welcher Dosis zugesetzt wurde. Wer kerngesunde Trauben aus biologischem oder biodynamischen Anbau (mit oder ohne Zertifizierung) mit optimalem pH-Wert von Hand erntet und verarbeitet, angefaulte Trauben sorgfältig aussortiert und bei der Verarbeitung der Trauben von der Ernte bis zum fertigen Wein maximale Sorgfalt walten lässt, benötigt gar keinen oder nur sehr wenig Schwefel während der Weinbereitung. Unser Profipanel hat gezeigt, dass es unglaublich viele Winzer gibt, die so präzise im Weinberg arbeiten, dass sie keine Schwefelzugabe benötigen.

Meist braucht Weisswein wegen seiner höheren Oxidationsempfindlichkeit und seiner möglichen Zuckerreste mehr Schwefel als Rotwein. Dabei schützt der Schwefel nicht nur vor Oxidation, er dient auch der Bindung des unerwünschten Acetaldehyds, das in geringen Mengen im Wein als Gärnebenprodukt entsteht und sensorisch sehr aktiv ist. Je süsser ein Wein ist, desto höher ist sein Schwefel-Bedarf, um ihn vor einer Nachgärung zu schützen.

Mundgefühl

Die Zugabe von Schwefel wirkt auch mikrobiell. Sie schützt vor Bakterien und Pilzen. Allerdings verändert und beeinträchtigt Schwefel, je nach Dosierung, nicht nur die Wirkung des Weines im Mund, sondern auch sein Aroma. Je feiner und delikater ein Wein ist, um so empfindlicher reagiert er bei Farbe, Duft und Wirkung auf den Schwefel. Zu viel davon – und der Wein wird in seiner Entwicklung regelrecht blockiert, sogar nachhaltig maskiert. Ein Beispiel: In vielen jungen Rieslingen spürt man den zugesetzten Schwefel als raue Säurespur auf der Zunge.

Schwefel ist nicht gleich Schwefel

Im Gegensatz zum «freien Schwefel» steht der «gebundene Schwefel», der sensorisch nicht wahrnehmbar und gesundheitlich ohne Bedeutung ist. Seine Bindungen sind abgebunden, er ist nicht mehr reaktiv. Wenn der Winzer einen Schwefelwert angibt, meint er den «freien Schwefel».

Der «freie Schwefel» im Wein ist als Sulfit je nach Konzentration nicht nur riech- und fühlbar, er ist durch seine freien Bindungen auch reaktiv und schützt so den Wein in der Flasche vor der Oxidation. Liegt er in zu hoher Konzentration vor, kann er gesundheitliche Beschwerden auslösen.

Der herkömmliche Winzer stellt seinen Wein in der Regel bei circa 50 mg/l an freiem (also aktivem, mikrobiell schützendem) Schwefel (SO2) ein. Im Gesamtschwefelbereich sind dabei 100 mg/l bei Rotweinen und 150 mg/l für Weissund Roséweine durchaus üblich. Konventionelle Weine dürfen sogar im Vergleich je nach Weinart und Restzuckergehalt zwischen 150 mg/l und 400 mg/l Gesamtschwefel enthalten. Manch berühmter Moselwinzer rühmt sich mit derart hohen Schwefelgaben. Man könnte es gar als echtes Markenzeichen bezeichnen. Diese Weine erringen sogar Spitzenpreise auf den internationalen Auktionen.

Das entscheidet der Winzer, je nachdem, wie sauber er gearbeitet hat, wie hoch der pH-Wert des Weines ist, ob der Wein einen Säureabbau gemacht hat, wie lange das Hefelager war. In manchen Jahren entscheidet sich auch der absolut nachhaltig arbeitende biodynamische Winzer, der höchst ganzheitlich denkt, zum Schutz der Weine vor dem Transport und der weiteren Lagerung beim Kunden für eine kleine Schwefelzugabe vor der Füllung. Dabei wird ein Teil des zugefügten SO2 gebunden und liegt nicht mehr frei vor. Die Summe aus freiem und gebundenem SO2 ergibt das gesamte SO2. Der Gehalt an gesamten SO2 ist in der Europäischen Union per Gesetz limitiert. Bio-Wein darf weniger Gesamt-SO2 enthalten als herkömmlicher Wein. Schwefel ist als potenzielles Allergen ab 10 mg/l Gesamt-SO2 deklarationspflichtig. Die Folge: Auf fast allen Weinflaschen-Etiketten steht der Hinweis «enthält Sulfite».

Richtig geniessen

Der geringe Schwefel in Naturweinen sorgt dafür, dass sie sich am Esstisch perfekt als Begleiter für Gans und Co. eignen. Seien Sie neugierig – Ihr Körper wird es Ihnen danken. Nehmen Sie sich Ruhe und Zeit bei der Auswahl der Winzer und Weine. Nehmen Sie sich auch Zeit für die Reifung, das richtige Glas und die richtige Stimmung. Erst dann entfalten sich Naturweine auch für klassische Trinker mit Bravour.

Die Jury

Von links nach rechts

Wsana Woo Vinoria Wine Media + Education Ihr Favorit: 2017 Muscat Freyheit, Weingut Heinrich

Markus Göschl Sommelier, wine & glory Sein Favorit: 2017 Chablis Montserre, Château de Béru

Ralf Kaiser der Weinkaiser, Journalist und Fotograf, freier Autor für VINUM Sein Favorit: 2017 Côtes de Provence Nature, Domaine de Féraud

Surk-ki Schrade La Vincaillerie, Naturweinhändlerin und Initiatorin des Weinsalons Natürel, die wichtigste Naturweinmesse in Deutschland neben der Raw in Berlin. Ihr Favorit: 2018 Pires Merlot, Weingut Schmitt

Claudia Stern Team VINUM Deutschland Ihr Favorit: 1. Platz Sterntaucher Riesling von Jakob Tennstedt, Mosel

Carsten Henn Chefredakteur VINUM Sein Favorit: 2017 Blaufränkisch Koregg, Weingut Schnabel

Valentine Mühlbauer Weinbar Rix, Köln, Weinakademikerin Ihr Favorit: 2012 Savagnin de Voile, Domaine de Saint Pierre, Jura

Tibor Werzl Head Sommelier, Five, Bochum Sein Favorit: Silène Merlot, Les Deux Terres

Jörg Philipp Degustar International Wine Consultants Sein Favorit: 2018 Côtes-du- Rhône Rouge, Domaine Roche- Audran

In der Vorprobe verkosteten: Andreas Schumann, Weingut Odinstal Jan-Philippe Bleeke, Weingut Staffelter Hof und SoLaWi- Weinprojekt, Mosel Peter Stuckwisch, absoluter Naturweinfreak und passionierter Weinmall Surk-Ki Schrade, La Vincaillerie, Ralf Kaiser & Claudia Stern


«Das Verkosten hat mir grosses Vergnügen bereitet. Den Merlot Silène von Les Deux Terres möchte ich direkt auf die Karte nehmen. Welch schöne Auswahl an besonderen Weinen! So eine Verkostung ist eine Hilfe für die Auswahl und Inspiration für weitere Gespräche mit den Winzern und Fachhändlern.»

Tibor Werzl Head Sommelier Five


«Ein wichtiger Unterschied in der Naturweinwelt: Nicht nur die Weine sind anders, auch die Haltung der Menschen im Umgang damit. Jeder darf sein, keiner ist richtig oder falsch, besser oder schlechter. Welcher Wein schmeckt, findet jede/r für sich heraus! Eine Galaxie der Toleranz und Akzeptanz, ein Beispiel für unsere Gesellschaft.»

Surk-ki Schrade La Vincaillerie & Weinsalon Natürel


 

«Mich treibt der feste Glaube an die landwirtschaftliche Individualität. Körperliche und seelische Nahrung. Mich ärgert es, wenn Kollegen von Biodynamie sprechen und sich von Esoterik distanzieren. Wenn du es für die Massen verfügbar und den Geschmack dienlich haben musst, geht es halt nicht.»

Andreas Schumann Weingut Odinstal


 

«Früher schienen viele Naturwein-Winzer sich kaum zu kümmern: Sie akzeptierten gesundheitsschädliches Acetaldehyd ebenso wie das gruselige Mäuseln oder das nach Nagellack riechende Ethylacetat. Sie opferten damit die jahrtausendealte Kultur des Weines einer Zeitgeist- Ideologie. Das hat sich gehörig geändert, wie diese Probe zeigt.»

Ralf Kaiser Journalist und Fotograf


 

«Die Weissweine sind polarisierend. Die Rotweine sind präzise, pur, fruchtig, und wir dachten, die wären viel ‹dreckiger›. Die Weine haben Frische, Zug und sind alle wirklich gut. Säure und Gerbstoffe geben besondere Kicks. Faszinierend waren die brillanten Farbspiele. Absolut erinnerungswürdige Verkostung.»

Jörg Philipp und Wasana Woo internationale Weinberater


 

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