Genfer Winterzauber

WENN ES NACHT WIRD VOR DER STADT

Text: Thomas Vaterlaus, Fotos: François Wavre/rezo.ch

Wenn Frost und Nebel die Genfer Rebberge in diffuse Watte hüllt, werden in den Dorfbistros deftige Saucissons, Terrinen, Nierchen, «Escalopes de foie gras» und Milken aufgetischt und mit frischfruchtigem Gamay runtergespült. Ein winterliches Loblied auf die wärmende Kraft des Genfer Terroirs...

 

Der gute Mann erzählt etwas von «démonter la tête». Vitali Klitschko schafft das manchmal mit einem einfachen Aufwärtshaken, aber was hier in der «Auberge de Choully» diskutiert wird, ist das Entbeinen eines Schweinskopfes, wodurch ein zusammenhängendes Stück Fleisch entsteht, das wie eine venezianische Fasnachtsmaske aussieht. Diese für manche etwas gruseligen Dinger sind die Basis für die Genfer Urwurst, die Longeole mit kontrollierter Ursprungsbezeichnung (IGP), die hier in diesem Lokal im Winter nie auf der Karte fehlen darf. Verfeinert wird sie mit reichlich Schwarte und Fenchelkörnern, die dieser Wurst aus der Super-Schwergewichtsklasse eine anisartige Frische verleihen. Drei Stunden lang müssen die rohen Dinger im Wasser knapp unter dem Siedepunkt ziehen, bevor sie als göttliche Deftigkeiten auf die Teller kommen. «Longeoleartisanale, pommes persillées, cardons», für Eingeweihte klingt das mindestens so unnachahmlich gut wie ein Chanson von Edith Piaf. Mit ihrem zarten, schmelzigen Biss macht die Wurst die Kalorien vergessen, vor allem wenn tüchtig nachgespült wird, etwa mit einem Gamay La Briva Vieilles Vignes von der Domaine Les Hutins.

Der wunderbarste Wahnsinn...

Die Mariage von so einer Genfer Wurst und so einem Genfer Gamay in so einer gemütlichen Pinte ist schlicht und einfach unschlagbar, selbst die beste Andouillette zusammen mit dem besten Beaujolais aus Fleurie vermisst hier niemand. Ja, in den Auberges in der winterlichen Champagne de Genève erleben wir das französische Savoir-vivre oft intensiver als in der Grande Nation selber…

In Genf ist das Bistro im Dorf mindestens so wichtig wie die Kirche. Objektiv gesehen sogar wichtiger, denn ins Bistro geht man jeden Tag.

Wer Genf kennenlernen will, muss raus in die Champagne, in die Winzerdörfer. Am besten an einem Winterabend. Dann nämlich sind Bauernterrinen, Kalbsnierchen an Dijonsenfsauce, Markknochen, «Escalopes de foie gras» und deftige Würste in Verbindung mit ein paar Gläschen oder Fläschchen eines kernigen Genfer Rotweins die beste Medizin gegen klamme Kälte und melancholischen Nebel. Wir nehmen also das Auto, verlassen die hektische City mit ihren uhrenkaufenden Russen und Chinesen und schnell auch den stadtauswärts wuchernden Agglomerationsschrott mit seinen Grossüberbauungen. Bald blinken nur noch die Lichter der Cointrin an fliegenden Jets sowie die roten Warnlichter der beiden Hochkamine der Kehrichtverbrennungsanlage von Aire-la- Ville am graublau-abendlichen Himmel, und wir sind angekommen in Genfs «l’autremonde» mit ihren weiten Getreidefeldern und Rebbergen, den mächtigen Bauernhäusern und den Brunnen am Dorfplatz.

Man braucht für so eine Landpartie nicht mal eine Reservation. Denn wer hier in einer jener Nächte, wo der Nebel wieder mal alles in Watte packt, auf den kleinen Landstrassen unterwegs ist, immer hart an der Grenze zu Frankreich und manchmal auch versehentlich jenseits davon, findet in jedem Dorf, ja fast jedem Weiler eine gelb schimmernde Funzel, die einen magisch anzieht, weil sie sich mit grosser Wahrscheinlichkeit als beleuchtetes Wirtshausschild entpuppt. Wenn’s voll ist, setzt man sich irgendwo dazu, das ist oft die beste Voraussetzung für einen geselligen Abend, vielleicht sind sogar ein paar Winzer mit am Tisch, und spätestens nach der ersten Flasche Gamay oder einem trinkig-gehaltvollen «Esprit de Genève» wird man in die eine oder andere Dorfgeschichte eingeweiht. Vielleicht erzählt man Ihnen ja in der «Auberge des Vieux-Chênes» in Presinge das Problem mit den Briefträgern. Die bringen nämlich den Winzern noch immer gerne die Post direkt ins Haus, schenken sich dann gleich selber ein Gläschen kalten Chasselas aus dem Kühlschrank ein und setzen sich an den Küchentisch. Und jetzt sei diese schöne Tradition gefährdet, weil es nämlich spezielle Alkoholkontrollen für Postboten gebe… eine Gemeinheit!

Und ja, falls Sie im urigen «Café des Amis» in Peissy am Stammtisch sitzen und der Gesprächsfluss gerade für einen Moment versiegt, dann betrachten Sie einfach die Theke mit all dem Trödel dahinter: Schweinsköpfe aus Plastik, rostige Sägeblätter, Öltrichter, Porzellankatzen, es ist der wunderbarste Wahnsinn... vor allem wenn das Glas noch gut gefüllt ist mit Pellegrin Rouge (eine Assemblage aus Gamay und Mondeuse) von der Domaine Grand Cour, die gleich auf der anderen Strassenseite liegt. Es ist nicht das einzige Café hier, wo alle Nachbarshäuser Winzerhäuser sind...

Fressen und gefressen werden

Übrigens essen die Winzer, wenn sie locker bei einem Glas Wein zusammensitzen, am liebsten Terrine und edlen Schinken vom hiesigen Wildschwein. Und zwar aus speziellem Grund. Weil in Genf im Jahr 1974 per Volksentscheid die Jagd verboten wurde und seither nur noch ein paar wenige staatliche Wildhüter die Bestände regulieren, kommen auch viele «französische Wildschweine» gerne ins vermeintlich schusssichere Genf. Rund 500 «Grunzer» sollen sich im Grenzland tummeln. Und fressen nebenbei im Herbst Zehntausende Kilo von reifen Trauben, am liebsten Garanoir und Gamaret. Die von den Wildhütern erlegten Schweine werden vom Metzger André Vidonne in Carouge zu edlen Delikatessen verarbeitet. Und auf die sind die Genfer Winzer ganz wild. Es ist das alte Spiel von Fressen und Gefressen werden. «Ich seh nun mal die Wildschweine viel lieber auf meinem Teller als in meinem Rebberg», sagt etwa der Winzer Guy Ramu aus dem Weiler Essertines, der als Wildschwein-Hochburg gilt. Übrigens: Sein reinsortiger Malbec mundet besonders gut zu diesen Schweinereien...

Wer leben will wie Gott in Frankreich, der muss das Savoir-vivre in der Champagne de Genève kennenlernen!

Klar, stimmige Gasthöfe gibt es in anderen Schweizer Weinregionen auch, von der Bündner Stube in der Herrschaft bis zur Pinte im Wallis. Doch im Gegensatz zu diesen Lokalen, die stets klar ihre schweizerische Regionalkultur erkennen lassen, erleben wir in den Bistros der Champagne de Genève die völlige Verschmelzung mit dem französischen Savoir-vivre. Vor allem aber ist hier ein Dorf ohne Bistro schlicht undenkbar. «Die Genfer Lokalpolitiker haben schon früh gemerkt, wie wichtig solche Bistros für das soziale Leben in einem Dorf sind, und setzen sich aktiv für deren Erhalt ein», sagt der ehemalige grüne Regierungsrat und heutige Ständerat Robert Cramer. Tja, in Genf ist die Auberge im Dorf mindestens so wichtig wie die Kirche. Objektiv betrachtet sogar wichtiger, weil man sich nämlich im Bistro nicht nur am Sonntag, sondern jeden Tag treffen kann und es erst noch etwas Ordentliches zu bechern, zu knabbern und zu lachen gibt.

Und jetzt die Revolution!

Wenn Sie in Russin das Bistro «La Vignoble Doré» am Dorfplatz besuchen, kann es gut sein, dass Sie den demnächst 80-jährigen und immer noch streitbaren Soziologen, Politiker und Autor Jean Ziegler treffen, der gleich gegenüber am Chemin de la Croix-de-Plombe lebt. Ziegler betont, dass er prinzipiell nicht am Tisch der Winzer, sondern am Tisch der portugiesischen Rebarbeiter sitze. Und was er hier manchmal so höre, beweise ihm, dass der Klassenkampf noch nicht zu Ende sei, sagt er. Während in der Stadt Genf ja die Calvinisten den Ton angäben, seien in den Landgemeinden generell die Katholiken in der Mehrheit, nicht aber in Russin. Russin sei fest in der Hand von besonders konservativen, ja fast schon sektiererischen Reformierten. Vom Resultat dieser latenten Ungerechtigkeit, dem Genfer Wein, ist aber auch Ziegler begeistert. Die Tropfen von Nicolas Bonnet in Satigny, Sarah Meylan in Cologny und den Hutins im benachbarten Dardagny schätzt er besonders. Nach dem zweiten Gläschen eines seiner Lieblingstropfen wird er vielleicht von seinen gemeinsamen Erlebnissen mit Jean-Paul Sartre und Fidel Castro erzählen.

Die Winzer sehen die Wildschweine lieber vor sich auf dem Teller als Trauben fressend in ihren Rebbergen.

Plötzlich wird die Kneipe in diesem kleinen Reformierten-Dorf zum Mittelpunkt der Welt. Und dann, wenn man auf die unnachahmlichen Produkte des Genfer Terroirs zu sprechen kommt, auf die Linsen, das Brot aus Genfer Mehl, das Fleisch von Bisons, die nahe dem Flugplatz bei Cointrin weiden, die Konfitüren und Schnäpse und natürlich den «Cardon épineux genevois», dieses artischockenähnliche Blattstielgemüse, das hier im Winter zu deftigen Gratins verarbeitet wird, dann blitzt es plötzlich in den Augen des temperamentvollen Philosophen. «Allein schon, wenn wir vom Wein und von der Landwirtschaft her denken, merken wir sofort, wie eigenständig Genf ist. Bei der Industrie und den Dienstleistungen sehen wir ganz ähnliche Tendenzen. Darum sollten wir die Eidgenossenschaft verlassen und ein unabhängiges Mitglied der EU werden, wie Luxemburg», denkt er uns laut vor. Diese geniale, revolutionäre Idee müssen wir gleich mit einem urgenferischen Gamaret der Domaine Les Hutins feiern!

Das einzige Blöde an so einer Landpartie ist die Tatsache, dass kaum eines dieser famosen Bistros über Zimmer verfügt. Also muss man gezwungenermassen irgendwann nach Mitternacht den Weg nach draussen, in die kalte Genfer Nacht, antreten. Weil die Stadt stets nah ist, kostet die Rückkehr mit dem Taxi zum Glück kein Vermögen. Auf dem Rücksitz dösend, kann das Resümee solch eines Abends nur euphorisch ausfallen. Zwar ist Genf immer noch keine unabhängige Republik in der EU. Aber als Deutschschweizer sind wir ja eigentlich auch stolz, dass diese ferne Ecke mit ihrem faszinierenden Savoir-vivre zu unserem Land gehört. Denn eines ist klar: Wer leben will wie Gott in Frankreich, der muss nach Genf kommen!

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