Ground Control to Major Tom

Winzerlegende Tom Litwan, Aargau

Text: Thomas Vaterlaus, Fotos: Linda Pollari

Mit leicht rötlich schimmerndem Bart und Carhartt-Workwear-Outfit wird der 44-jährige Tom Litwan oft für einen Hipster gehalten. Doch wer ihn kennenlernt, merkt rasch: Der Stadtmensch, der im ländlichen Aargau ein beeindruckendes Portfolio an schnörkellos charaktervollen Crus in die Flaschen bringt, entzieht sich jeder Typisierung. Er ist so eigenständig wie sein Mispel-Cidre!

Auf dem Armaturenbrett seiner mobilen Einsatzzentrale, des grauen Renault-Kastenwagens, liegen ein beeindruckend grosser Sack, gefüllt mit Ricola-Kräuterbonbons, und ein Buch mit dem Titel «Von Böden die klingen und Pflanzen die tanzen», das er schon lange mal lesen wollte. Der 44-jährige Tom Litwan ist Pendler zwischen zwei Welten, die gefühlsmässig so weit voneinander entfernt liegen, dass eine kleine orbitale Trägerrakete ganz nützlich wäre, um diese Distanz elegant zu überwinden. Dabei sind es nur 50 Kilometer, und die bewältigt Tom täglich mit seinem Renault. Zuhause ist er mit seiner Lebenspartnerin, die in der Textilbranche tätig ist, im «Wilden Westen» der Stadt Zürich, wo er sich noch immer ab und zu mal in Clubs wie «Frieda’s Büxe» oder «Supermarket» den zeitgenössischen House-Beats stellt. Letzthin habe ihn allerdings im «Supermarket» einer mit den Worten begrüsst: «He, geil, dass du auch hier bist!», und erst später sei ihm klar geworden, dass ihn der betreffende Typ gar nicht kannte, sondern ihn einfach als «Oldie» speziell willkommen heissen wollte. Egal, er diniert heute sowieso lieber gemütlich in Szenelokalen wie dem «Josef» oder dem «Schiwago» und lässt dabei seine eigenen Weine konsequent links liegen, um sich weiterbildungsmässig anderem zuzuwenden. Frühmorgens sattelt er dann seine mobile Einsatzzentrale und macht sich auf in Richtung Suburbia, zuerst auf der Autobahn Richtung Bern, dann durch den aargauischen Kreisel-und-Mehrspuren-Asphaltsalat. Das letzte kurze Stück über das Benkerjoch, die mutmasslich steilste Passstrasse schweizweit, die von einem Postauto ganzjährig fahrplanmässig abgefahren wird, eröffnet dann schon eine Ahnung vom spektakulär unspektakulären Jura-Vorhügelland. An klaren Tagen reicht der Blick weit bis in den Schwarzwald jenseits der Grenze. 

Die Böden gaben den Weg vor

«Hier arbeite ich und produziere Wein. In Zürich lebe ich und geniesse Wein», beschreibt er kurz und bündig das Wesen seiner zweigeteilten Existenz. Und auf die Frage, was ihn denn hier im ländlichen Aargau hält, wo Transparente auf Wiesen und an Häusern darauf hinweisen, dass der Anteil an Impfgegnern und Querdenkern mutmasslich überdurchschnittlich hoch ist, antwortet er klipp und klar: «Der Kalkmergelboden. Ich kenne keinen anderen Ort in der Deutschschweiz mit so uralten, völlig ausgewaschenen, kargen Böden, in denen die Burgundersorten ihre Qualitäten so subtil ausspielen können.»

«Der Begriff Naturwein ist aus meiner Sicht ein Widerspruch in sich.»

Tom Litwan bewirtschaftet hier, im Fricktal und im Schenkenbergertal neun Parzellen in sieben Dörfern. Der Fokus seiner Arbeit liegt klar auf den Burgundersorten, dem Chardonnay, vor allem aber dem Pinot Noir. Den Müller-Thurgau, die zwei Schaumweine und seine verschiedenen Cidres, die er aus Bohnäpfeln, Quitten, Weichseln oder Mispeln produziert, sieht er eher als auflockernde Fingerübungen. Die Böden zeichneten den Weg zu den Burgundersorten gewissermassen vor, und Tom Litwan ging ihn gerne, denn: «Bordeaux hat mich nie wirklich berührt.» 

Seine Philosophie ist konsequent darauf ausgerichtet, den Lagencharakter der verschiedenen Parzellen in die Flaschen zu bringen. So bewirtschaftet er seine Rebberge kontrolliert biodynamisch und vinifiziert seine bis zu sechs verschiedenen Lagen-Pinots mit Namen wie «Wanne», «Auf der Mauer», «Chraibel» oder «Rüeget» nach dem gleichen Prinzip und verzichtet dabei auf jeglichen Firlefanz, der die Feinheiten der verschiedenen Terroirs verdecken könnte. Also keine kalten Maischenstandzeiten vor der Gärung und fast kein neues Holz während des Ausbaus. «Ich habe zwar mal bei einem Besuch der Domaine Leroy junge Pinots aus Neuholz verkostet, die schlicht perfekt waren. Aber die haben anderes Holz und arbeiten anders in den Reben. Wichtig ist, dass du nie jemanden kopierst, sondern für deine eigenen Verhältnisse die richtigen Lösungen findest», sagt er. Litwan verwendet einen Anteil an Ganztrauben, arbeitet mit dem Presswein und setzt auf natürliche Vergärung mit rebbergseigenen Hefen und minimaler Schwefelung. Als Naturweinmacher sieht er sich deswegen nicht: «Der Begriff Naturwein ist aus meiner Sicht ein Widerspruch in sich. Denn der Winzer muss die Rebe gewissermassen manipulieren, damit sie ihm das gibt, was er will. Allein schon deshalb ist Weinmachen nicht Natur, sondern Kultur.» Auch gegenüber dem Schwefel hat er ein entspanntes Verhältnis. «Der Schwefel wird heute zu Unrecht verteufelt, denn eigentlich ist er auch ein Lebensbaustein. Und sowieso, Restzucker ist heute definitiv die viel grössere Seuche», sagt er. 

 

Eine zunehmende Zahl von Schweizer Topwinzern versucht sich heute mit Pinot-Noir-Selektionen aus Einzellagen zu profilieren. Doch längst nicht immer zeigen sich die erhofften Terroir-Unterschiede im Glas. Bei den Crus von Tom Litwan hingegen schon. Jeder Cru hat ein eigenständiges Profil. Mögen sich die Böden nur in Nuancen unterscheiden, so hat im komplex coupierten Hügelland doch jede Parzelle ihr eigenes Mikroklima. Und auch wenn alle Litwan-Crus mit ihrem trockenen, frischen und belebenden Charakter begeistern, so zeigt sich der «Rüeget» stets besonders mineralisch, filigran und lebendig, während sein «Auf der Mauer» kraftvoller und samtiger erscheint, bedingt durch die wärmespeichernden Trockensteinmauern, welche hier die Rebterrassen halten. Und der «Chalofe» mit seiner eleganten wie vielschichtigen Art ist vielleicht der vollkommenste unter den Litwan-Crus.

Vom «Schloss-Faktotum» zum Winzer

Tom Litwan ist in der Kleinstadt Aarau aufgewachsen und erlernte den Beruf des Maurers. Nach der Lehre zog er für drei Jahre zu einer befreundeten Schweizer Familie ins Burgund, welche in Ancy-le-Franc, rund 30 Kilometer östlich von Chablis gelegen, das imposante Renaissance-Schloss Château les Charmées als Event-Location mit Chambres d’hôtes führte. «Ich war da sozusagen das Faktotum und das Mädchen für alles, habe Bäume gefällt, Rasen gemäht oder in der Küche mitgeholfen.» Litwan kann sich gut erinnern, dass einmal ein Filmteam mit Catherine Deneuve im Schloss wohnte. Doch viel wichtiger war ihm, dass er den Patron bei seinen Wein-Einkaufstouren in der Region begleiten konnte. Und mit der Zeit trank er auch mehr von dem, was im Schlosskeller so alles schlummerte. Sein Fazit: «Ich ging als Biertrinker nach Frankreich und kam als Weintrinker zurück.» Und nicht nur das: Der Wein hatte ihn derart gepackt, dass er im Alter von 22 Jahren eine Winzerlehre begann und danach in Genf bei der Domaine des Balisiers der beiden inzwischen verstorbenen Bio-Pioniere Gérard Pillon und Jean-Daniel Schlaepfer als Kellermeister arbeitete. Ab 2006 pachtete er dann für sein eigenes Projekt erste Parzellen im Schenkenbergertal.

Während wir in seiner mobilen Einsatzzentrale durch das ländliche, aber doch reichlich zersiedelte Aargau rauschen, beschallt uns aus dem Autoradio der gute David Bowie mit seinem Song «Space Oddity». Und weil mit der Textzeile «Ground Control to Major Tom» fast schon persönlich angesprochen, summt der Winzer kurz den Refrain mit. Sein Lieblingsmusiker ist freilich ein ganz anderer: nämlich der wilde, exzentrische, vor kurzem 80 Jahre alt gewordene George Clinton, der Erfinder des P-Funk. Ganz nach dem Motto «Pure Funk zu pure Wine», ooooh yeaaaah! «Egal ob beim Wein oder im Leben, es braucht eine gewisse Entspanntheit, sonst macht’s keinen Spass!», sagt er uns zum Abschied.


Mit der Finesse vom Kalk

Sechs Pinot-Noir, zwei Chardonnays, einen Müller-Thurgau, zwei Schaumweine und verschiedene Cidres kreiert Tom Litwan von seinen Aargauer Terroirs. Alle Weine versprechen geradlinigen Charakter und grosses Reifepotenzial.

Petit Meslier Extra Brut 2016

17.5 Punkte | 2022 bis 2026

Die Ursorte aus der Champagne ergibt auch im Aargau einen ungemein kernig frischen Schäumer! 9 Gramm Säure und nur 2 Gramm Dosage sind eine klare Ansage. Florale Noten, Kernobst, etwas Agrumen und eine Spur Haselnuss. Viel Zug dank einer saftig-präsenten Säure. 

Chardonnay Schinznach Wanne 2014

18 Punkte | 2022 bis 2027

Wirkt nach sieben Jahre Flaschenreife noch immer verblüffend jugendlich und zupackend. Steinigkalkige Noten, Wiesenkräuter, gelbe Früchte, ein Hauch von Nüssen. Im Gaumen animierend, klar und kernig. Die Säure sorgt für eine tänzerische Finesse. Grossartig!

Pinot Noir Elfingen Rüeget 2012

18.5 Punkte | 2022 bis 2026

Was für ein faszinierend ehrlicher und beschwingter Pinot! Rote Beeren, dazu Bohnerwachs und Lakritze, auch rauchige, florale und mineralische Noten. Im Gaumen temperamentvoll und fruchtbetont.

Pinot Noir Oberflachs Auf der Mauer 2012

18 Punkte | 2022 bis 2026

Die warme Terrassenlage sorgt für eine Nuance mehr Power. Aromen von eingelegten Beeren und Sauerkirschen, erdige Noten. Zeigt sich trotz der Reife noch immer dicht gebaut. Im Gaumen getragen von einem verführerischen Fruchtschmelz. Cru mit viel Charme.

Pinot Noir Thalheim Chalofe 2019

18 Punkte | 2022 bis 2032

Der aktuelle Jahrgang seines Flaggschiff-Pinots zeigt sich trotz seiner Jugendlichkeit schon zugänglich. Viel frische rotbeerige Frucht. Auch Lakritze und florale Noten. Im Gaumen gut und fest gebaut, gleichzeitig aber auch verspielt fruchtig. Finesse pur!

Schaumwein Mispel 2020

17 Punkte | 2022 bis 2026

Die Cidres sind die neue Spielwiese von Tom Litwan. Neben Äpfeln arbeitet er auch mit Quitten, Sauerkirschen und eben Mispeln. Florale Noten, ein Anflug von roten Beeren. Ein im besten Sinne edelrustikal-erfrischender Schäumer.

 

Die Weine von Tom Litwan sind in der Schweiz bei www.vinothekbrancaia.ch und in Deutschland bei
www.linke-weine.de erhältlich.

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