Sommeliers Rat

Wann muss Wein atmen?

Der Probierschluck zeigt uns, in welcher Phase sich ein Wein gerade befindet und ob Sauerstoff helfen kann, den Genuss zu erhöhen. Einfache Basisweine sind meist zugänglich, nur wenn das Aroma von einem Fremdton überlagert wird, ist Sauerstoff notwendig. Wird der Wein langsam in eine Karaffe gegossen, verflüchtigt sich der Fremdton schon nach etwa zehn Minuten. Junge, komplexe Weine brauchen Zeit, sie sollten mindestens einen Tag in der Karaffe verbringen, bevor sie serviert werden. Ich verwende bei diesen Weinen eine breite Karaffe, die einen intensiven Sauerstoff austausch zulässt. Natürlich hilft dieser Vorgang, kann aber niemals die Flaschenreifung ersetzen. Rotweine mit zu harschem Tannin werden durch das Dekantieren weicher. Sogar Champagner öffne ich einen Tag zuvor, wenn sie sich allzu karg präsentieren. Sie gewinnen durch den sanften, aber langen Sauerstoffkontakt oft an Cremigkeit, und die Säure wird besser integriert. Ein Sonderfall sind die sogenannten Orangeweine, die machen oft erst nach Tagen Spass. Deshalb lasse ich ihnen Zeit und öffne die Flaschen oft schon eine Woche vor dem Einsatz. Manchmal vollbringt Sauerstoff sogar kleine Wunder. Vor einiger Zeit brachte mir ein Freund eine blickdichtverpackte Flasche Rotwein vorbei. Ich sollte sie blindverkosten. Der Wein war bereits geöffnet, und ich kam erst neun Tage später dazu, einen Schluck zu probieren. Er war charmant, unkompliziert, hatte Balance und absolut nichts, was mich störte. Ich war überrascht, als ich feststellte, dass es ein einfacher, barriquegereifter Zweigelt war. Der Einfluss vonSauerstoff wird unterschätzt.