Erfassung rebengenetischer Ressourcen in Deutschland – Ein Problem?

14.07.2011 - arthur.wirtzfeld

DEUSCHLAND (Bonn) - Zur Vorgeschichte: Seit Jahresbeginn 2007 lief das dreijährige Erhebungsprojekt „Erfassung rebengenetischer Ressourcen in Deutschland“. Im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) sollten die noch vorhandenen, über 60-jährigen und wurzelechten Rebbestände aufgefunden und deren Rebsorten identifiziert werden. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf seltene historische Rebsorten gelegt werden sowie auf Klone züchterisch vernachlässigter, traditioneller Rebsorten, deren Erhaltungsbasis als unzureichend festgestellt werden konnte.

 

Mit der Erfassung hatte die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) die Arbeitsgemeinschaft Erfassung rebengenetischer Ressourcen in Deutschland Jung + Fischer GbR beauftragt. Diese Arge hat das Projekt erfolgreich durchgeführt, ebenso mehrere geforderte Berichte und Zusammenfassungen abgeliefert.

Dazu zitieren wir den Autor der nachfolgenden Kurzfassung, Andreas Jung: „Der Abschlussbericht mit 230 Seiten ist offenbar unter Verschluss und war bisher nur der Ressortforschung zugänglich. Er sollte aber nach Informationsfreiheitsgesetz bzw. Umwelt-Informations-Gesetz mit (nach Ankündigung) geschwärzten Passagen bei Herrn Zachäus Referat 514 BLE angefordert werden können.“

Nach unserer Rückfrage bestätigt der Autor Andreas Jung, dass das Projekt seit Herbst 2010 offiziell abgeschlossen sei, die Datenbank liege der BLE seit Januar 2010 vor, der Abschlussbericht sei nach einmaliger Überarbeitung ebenfalls akzeptiert worden, aber er stehe der Öffentlichkeit und damit der  Weinszene nur „als Kurzbericht“ zu Verfügung, der Abschlussbericht selbst sei bis dato unter "Verschluss", so der Autor.

Hier nun der Kurzbericht im Original:

In drei Erhebungsjahren (2007 ‐ 2009) wurden insgesamt 1021 Standorte von Reben inspiziert, wovon 769 Vorkommen den Kriterien dieser Erhebung genügten. Die Zahl der gemeldeten und selbst entdeckten Weinbergsparzellen konnte vom Sortenexperten der ARGE in drei Vegetationsperioden zu 99 % abgearbeitet werden. Die tägliche Erhebungsrate lag bei 4 Einheiten pro Tag. Insgesamt wurden 345.977 Reben inspiziert und 351 Sortenidentitäten festgestellt, darunter 226 historische Sorten und 16 historische Neuzüchtungen aus dem 19. Jahrhundert, zusammen 242 vor 1910 existente Sorten (69%).

Die dabei gefundenen und registrierten historischen Sorten sind zu 56% reine Keltersorten. 28% sind als Keltersorten und Tafeltrauben verwendbar. Der Anteil reiner Tafeltrauben lag bei 15%. Gefunden wurden zudem 75 Neuzüchtungen des 20. Jahrhunderts (21 %) und 5 spontane Sämlinge, neben Hybriden und Unterlagen. Fast alle Sorten konnten durch ampelographisch definierte Sortennamen mit zugehöriger Sortenbeschreibung und Bildreferenz identifiziert werden.

Die Sorten wurden in jedem Weinberg quantifiziert und mit absoluten und relativen Häufigkeiten erfasst. Mit 133.657 erfassten Reben und knapp 39% des Gesamtvolumens ist Riesling die insgesamt häufigste, aber vor allem an Mittelrhein, Mosel und Saar konzentrierte Sorte. Silvaner ist mit 397 Fundorten die am regelmäßigsten auftretende, in jedem zweiten alten Weinberg verbreitete Rebsorte. Die häufigste nicht klassifizierte Rebsorte ist der Blaue Elbling (1981 Reben, Platz 12) mit Hauptvorkommen an der Bergstraße und am Neckar. Nur 25 Sorten übersteigen jeweils 0,1 % des Gesamtvolumens der erfassten Rebstöcke. 66 Sorten (27 %) sind nur durch je ein gefundenes Exemplar vertreten. 50 % der Sorten kommen mit 5 oder weniger Individuen vor. 71 % der Sorten sind mit insgesamt 805 Exemplaren vertreten. 105 Sorten sind jeweils nur in einem einzigen Weinberg vorhanden. Nur 49 historische Rebsorten kommen an mehr als 10 Fundorten vor. 35,5% oder 86 historische Sorten waren in Deutschland bereits ausgestorben. Diese Sorten konzentrieren sich in über 80 Jahre alten Weinbergen.

Die Größen schwanken von 100 Stock bis mehrere Hektare an der Mosel und oder in Silvaner- und Portugieser-Anlagen in Rheinhessen, an der Bergstraße zwischen 300 und 900 Reben, in Franken zwischen 400 und 1500 Stöcken. Von 654 alten Weinbergen kann man 57 als museal bezeichnen mit historischen Erziehungssystemen und über 90-jährigen, gemischten Sortenbeständen.

52 Weinberge (8 %) enthalten mehr als 15 Sorten. Sortenrein sind 16% oder 103 Weinberge, v.a. westlich von Bingen. In Baden wurden 134 Sortenmuster differenziert, davon 100 definierte historische Sorten. Allein 82 Sorten konzentrieren sich an der Badischen Bergstraße, die die höchste Sortendichte, die höchsten Sortenzahlen pro Region und die sortenreichsten Mischsätze Deutschlands (7-33 Sorten) aufweist.

Endemisch in Baden sind 31 Sorten. Mit 1797 Reben ist die nicht klassifizierte Sorte Blauer Elbling die zweithäufigste Rebsorte in den alten Weinbergen Badens. In Württemberg enthalten die Weinberge 68 historische Sorten, die sortenreichsten davon je 7 bis 15 Sorten mit Trollinger als Hauptsorte. 18 historische Sorten sind in Württemberg endemisch. In Franken wurden 77 historische Rebsorten, davon 17 endemische, oft mittelalterliche Sorten registriert. Die altfränkischen Sorten sind teils mit Silvaner über Franken hinaus an die Nahe oder Sachsen‐Anhalt verbreitet worden. Die Zahl der Sorten in sehr alten, originalen Mischsätzen am Steigerwald bewegt sich zwischen 10 und 20 Sorten.

Ältester Hausstock bei den Grafen von Castell

Am 1601 erbauten Archiv der Grafen von Castell wächst der älteste Hausstock Deutschlands, ein Früher Leipziger (Agostenga, Prié Blanc). Im rechtsrheinischen Westen gilt der Satz, je älter desto ursprünglicher und desto sortenreicher. Die Weinberge vor 1940 sind teils noch mit musealen Erziehungssystemen und dem traditionellen Mischsatz ausgestattet. Die Reben sind bis auf Nachpflanzungen wurzelecht.

In den neuen Bundesländern hat man seit 1920 konsequent Pfropfreben gepflanzt. Die nach der Reblauskrise neu angelegten Weinberge sind ursprünglich sortenrein gegründet. Die häufigste Sorte (25197 Stock) ist der Grüne Silvaner in 80 % der alten Weinberge von Saale und Unstrut, gefolgt von Müller‐Thurgau (9399 Reben) in 59% und dem Roten und Weißen Gutedel in 64%der Weinberge. Häufig findet man Portugieser und den sog. Weißen Burgunder, dessen Altbestände an der Saale mit Chardonnay (1530 Stock), in Thüringen und Sachsen auch Auxerrois gegründet wurden.

In den winterkalten Weinbaugebieten wurde zur Bedarfsdeckung nach Frostwintern Sortenmaterial aus Osteuropa importiert. Die sortenreichsten Bestände der ehemaligen DDR sind somit sekundäre Mischsätze mit speziellem Importhintergrund. Die Zahl der eingesprengten Sorten in den jeweiligen Altbeständen korreliert direkt mit der Frosthärte der Hauptsorten. Einige frostharte Sorten wie Elbling, Traminer, Roter und Grüner Veltliner, Blauer Silvaner oder Neuburger stammen noch aus Vorkriegszeiten.

Relativ zahlreich ist der Anteil von aus Ungarn oder der Krim importierten, historischen und modernen Tafeltrauben. Im Weinbaugebiet Saale‐Unstrut wurden 79 historische Sorten erfasst. 80% der Weinberge dort enthalten 4 oder mehr Sorten. 54 der historischen Sorten (68%) sind in Stückzahlen von nur 9 oder weniger Exemplaren in den Weinbergen vorhanden.

Die wenigen noch wurzelecht bepflanzten, teils brachliegenden Restflächen mit Rebsortenbesatz aus dem 19. Jahrhundert enthalten neben Elbling komplett andere, größtenteils ausgestorben geglaubte oder übersehene Rebsorten wie Adelfränkisch, Möhrchen und den Großen und Kleinen Burgunder, die teils ins 16. Jahrhundert zurückreichen. 22 Sorten im Gebiet Saale‐Unstrut sind endemisch verbreitet.

Das Weinbaugebiet Sachsen ist geprägt durch eine noch hohe Zahl an alten Hausstöcken, einigen 1920 gegründeten Zuchtbeständen von Grünem Veltliner, Neuburger und Blauem Silvaner, sowie letzte, teilweise wurzelechte Kleinbestände von Traminer und Elbling am Ende der Sächsischen Weinstraße bei Diesbar.

Die hohe Zahl von 75 historischen Rebsorten in Sachsen und 19 endemischen Sorten erklärt sich durch die Miteinbeziehung des ehemals Sächsischen Rebsortiments, das an gründerzeitlichen Talut‐Mauern eine über 100‐jährige Sammlung von Tafeltrauben enthält (77 Sorten). In Radebeul steht der zweitälteste Hausstock Deutschlands, eine Gelbe Seidentraube mit rund 350 Jahren. In Seußlitz und Potsdam gibt es Reste der königlichen Tafeltraubenkultur aus dem 19. Jahrhundert.

Linksrheinisch wurden 90 traditionelle und historische Sorten ohne Neuzüchtungen nachgewiesen. Rheinland‐Pfalz zeichnet sich durch eine auffällige Häufung von Neuzüchtungen in den älteren Weinbergen aus, die teils beträchtliche Anteile aufweisen können. Ein ganzer Schwung von slowenisch‐slawonischen Sorten mit Portugieser-Mimikry sind mit den Edelreisbündeln von Portugiesern zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Steiermark nach Rheinhessen exportiert worden und dort für die relativ hohe Sortenzahl von 49 Rebsorten verantwortlich.

An der Nahe gibt es die letzten musealen Weinberge von Silvaner, die mit 1 m Höhe die alte, bodennahe Erziehung aufweisen. Sensationell ist das Vorkommen von 4 verwilderten, aus dem Mittelalter stammenden Orleans‐Reben am Disibodenberg. An der Ahr fanden sich nur 8 Rebsorten, im Rheingau 9 Sorten.

Unter den 106.515 inspizierten Reben an Mosel und Saar enthielten 62 Lagen nur Riesling, kein Weinberg mehr als 4 Sorten. Insgesamt wurden dort Einzelfunde von 21 historischen Sorten, darunter Simoro, Kleinberger und Roter Veltliner registriert. 322 Akzessionen von 147 verschiedenen Sorten wurden im Auftrag des JKI IRZ Geilweilerhof gesammelt. 68 Muster wurden mehrfach gesammelt. Bei der Inspektion der Sortimente konnten etwa 140 falsch bezeichnete Akzessionen richtig gestellt werden.

Epilog:

Zum ersten Mal in der Geschichte der Ampelographie liegt eine nationale Erhebung vor, die die genauen Mengenverhältnisse der Rebsorten in den historischen Mischsätzen der verschiedenen Weinbauregionen erfasst hat. Von einst 400 historischen Rebsorten konnten 242 historische Sorten wiedergefunden werden, von denen 49% (119 Sorten) erstmals nachgewiesene, bereits ausgestorben geglaubte, übersehene, nicht als eigenständig betrachtete oder bisher nicht identifizierte Sorten darstellen. Darunter sind genetische Schlüsselsorten wie Süßschwarz und berühmte, mit Standardsorten verwechselte Sortenklassiker wie der Kleine Burgunder.

Die Verbreitungsmuster der Neufunde erlauben weitreichende Rückschlüsse auf den Sortenbesatz der letzten Jahrhunderte, sowie auf Herkunft und historische Bedeutung der Sorten. Das neue Sortenmaterial sollte vollständig eingesammelt, klonenzüchterisch bearbeitet und von Auflagen befreit im Erhaltungsanbau nachhaltig erhalten werden.