Editorial
Alle Jahre wieder…
...kommt der Osterhase angetanzt und legt uns Bordeaux-Eier ins Nest, und Weinfreunde fiebern der Entdeckung dieser Schätze entgegen wie Kinder am Familienfest. Primeur-Käufer kriegen endlich ihre Kostbarkeiten in Haus und Keller geliefert und können es nicht erwarten, die erste Flasche des umjubelten 2015ers zu öffnen, weil sie prüfen möchten, auf welche Katze im Sack sie gesetzt haben, wohl wissend, dass sie darauf noch ein paar Jährchen warten sollten. Andere stellen sich die Gretchen-Frage: Soll ich oder soll ich nicht bei meinem Vertrauenshändler vom neuen Jahrgang subskribieren oder soll ich doch lieber in den Supermarktrayons nach vergessenen Schätzen früherer Jahre graben? Auf all diese Fragen versuchen wir, hier im Telegrammstil und auf den folgenden Seiten dieses kompakten Westentaschen-Guides ausführlicher eine Antwort zu geben.
Beginnen wir mit dem Ende: Wer zu interessanten Preisen (die Online-Suche gibt megabyteschnell preis, was Schnäppchen sind) 2011er, 2012er, 2013er, 2014er kaufen kann und möchte, darf das ungeniert tun. Die meisten 2011er stecken aktuell zwar in ihrer Trotzphase, doch in drei, vier Jahren werden sie diese überstanden haben und dank ihres festen, klassischen Baus für einige positive Überraschungen sorgen. Viele 2012er haben nichts von ihrem Charme eingebüsst, auch wenn sie sich langsam doch etwas verschliessen. Die einfacheren 2013er sind zurzeit sehr angenehm und erfrischend, sofern man sie etwa eine Stunde in der Karaffe lässt: Die Spitzenweine mögen hingegen noch ein, zwei Jahre ruhen. Auch die 2014er sind erstaunlich ausgewogen und liebenswürdig und auch preislich sehr interessant. Wer reife, elegante Bordeaux mag, lasse ihnen Zeit bis etwa 2024. Über 2015er und 2017er geben wie erwähnt die folgenden Seiten Auskunft. Unter den älteren Jahrgängen, die aktuell grossen Spass machen, verdienen 2004, 2002 und 2001 besondere Erwähnung. Die 2005er bleiben generell verschlossen (Aber werden sie ihre harten Tannine wohl je ablegen?), von einigen Ausnahmen abgesehen. Dafür erreichen viele 2000er langsam den Zenit. Sehr unterschiedlich notieren die 2006er, von sehr reif bis jugendlich-verschlossen. Da hilft nur der Korkenzieher weiter. 2007er und 2003er trinkt man besser fertig, und das gilt auch für Jahre wie 1999 und 1997. Im Médoc schmecken die 1996er aktuell toll, am rechten Ufer und in Pessac-Léognan die 1998er. Im Médoc wird dieser Jahrgang hingegen nicht mehr besser und am rechten Ufer der 1996er auch nicht: Man trinke sie ebenfalls besser jetzt und in den nächsten zwei, drei Jahren.
Ob all der Rotweinpracht vergisst man nur zu gerne, dass Bordeaux auch trockene und edelsüsse Weissweine produziert, und dies gerade in den letzten zehn Jahren mit besonderem Erfolg. Resultat sind technisch mit Präzision gekelterte Weine grosser Fruchtigkeit und zunehmender Frische. In Sauternes gelingt seit 10, 15 Jahren fast jedes Jahr (wer eine Eselsbrücke braucht: Hervorzuheben sind alle ungeraden Jahrgänge seit 1997). Und die trockenen Weissweine von 2015 und noch mehr 2017 sind absolute Spitze, nicht nur in Pessac-Léognan und den Graves, sondern auch in der übrigen Region: Trockene weisse Spitzenbordeaux kommen mehr und mehr auch aus dem Médoc oder aus den Sauternes-Gütern, auch wenn sie als «einfache» Bordeaux etikettiert werden. All dies illustriert einmal mehr, dass Bordeaux zu einer Form aufgelaufen ist wie wohl noch nie in seiner Geschichte. Und weil nicht mehr nur ein paar Dutzend Güter Spitzenweine auf die Flasche bringen, sondern Hunderte von hervorragend arbeitenden Betrieben, ist das Angebot so breit wie noch nie. Dass nur gerade zwei, drei Dutzend davon zu kostspieligen Spekulationsreliquien verkommen sind, weiss langsam jedes Kind. Im internationalen Vergleich bleibt die Bordeaux-Breite preis- und damit absolut begehrenswert.
Ihr Rolf Bichsel