Das Beste kommt jetzt!

Francisca und Christian Obrecht, Bündner Herrschaft

Text: Thomas Vaterlaus; Foto: CLUS Werbeagentur

Aus den 1001 Optionen, die der zeitgenössische Weinbau bietet, haben sich Francisca und Christian Obrecht ein ureigenes Konzept geschmiedet und dieses stetig verfeinert. Mit den verbesserten Möglichkeiten, die ihr neuer Keller bietet, nehmen sie nun das nächste Level ins Visier. Der Neubau wurde auch zur Selbstreflexion ihres Seins und Tuns und zur Initialzündung für ein noch kompromissloseres individuelles Weinmachen.

Eine kleine Scheune mit futuristischem Inhalt ist das Erste, was der Besucher vom Weingut zur Sonne zu sehen bekommt. Denn im Bretterverschlag vor dem Eingang steht der Obimat, eine Hightech-Kiste, die 24 Stunden lang alle Obrecht-Weine ausspuckt, auch Grossflaschen. Und die Weissen gut gekühlt. Zur Alterskontrolle ist der Zauberwürfel mit einer automatisierten Identitätskontrolle ausgestattet. Nebst Wein kann man in diesem «unbemannten» Shop auch Schals, Mützen und Handschuhe von der Manufaktur «Strickstrick» kaufen, ein Hinweis darauf, dass die obrechtsche Vision vom edlen Handwerk nicht beim Wein aufhört. «Wir haben den Obimat in der Covid-Zeit lanciert. Heute ist die Blechkiste schon unser drittwichtigster Wiederverkäufer», sagt Francisca Obrecht. Ja, wer möchte nicht in einem Dorf wohnen, wo mansich auch nach Mitternacht noch eine sehr gute Flasche Wein besorgen kann?

Christian Obrecht trägt wie häufig Knickerbocker-Hosen. Auf die Frage, ob dieses Kleidungsstück als Ausdruck einer wertkonservativen Grundhaltung zu verstehen sei, schüttelt er verwundert den Kopf. «Sie sind einfach bequem, im Winter mit warmen Wollsocken, im Sommer mit unten gar nichts», sagt er. Und überhaupt seien Knickerbocker eine amerikanische und keine alpenländische Erfindung. Mit dem Begriff «wertkonservativ» kann sich der Winzer trotzdem anfreunden. «Wenn das bedeutet, dass man nicht jedem Trend nachläuft, dafür sozial umsichtig agiert, dann bin ich gerne ein Wertkonservativer», sagt er. Auch die Tatsache, dass in Jenins rund 95 Prozent der Elektrizität aus einem eigenen kleinen Wasserkraftwerkstammen und die restlichen fünf Prozent bald durch Sonnenenergie gedeckt werden sollen, ist für ihn «wertkonservativ» im besten Sinne.

Completer künftig aus der Solera

Was das Winzer- und Ehepaar Obrecht auszeichnet, ist die beeindruckende Konsequenz, mit der sie einmal gemachte Erkenntnisse umsetzen. Sämtliche eigenen Rebberge, immerhin siebeneinhalb Hektar, werden seit 2017 biodynamisch bewirtschaftet.

«Charakter erkennen und stärken, in klarer Struktur. So haben wir die Kinder erzogen. Und unsere Weine auch.»

Und während andere Winzer die wiederaufstrebende Uraltsorte Completer in homöopathischen Mengen anpflanzen, haben sie nach ihrem «Jaaa!» zu diesem Gewächs fast einen Hektar damit bepflanzt und sind damit die grössten Completer-Produzenten weltweit. Auch den Ausbau ihrer Weissweine haben sie revolutioniert. Obwohl sie sich nicht zur Naturwein-Macher-Szene zählen, durchlaufen heute alle Weisseneine vollständige oder teilweise Maischegärung, was den Crus spürbar mehr Charakter, Grip und Eigenständigkeit verleiht. In Verbindung mit dem Ausbau in den «Clayver Luna», den 250 Liter fassenden Tonkugeln, entstehen Crus, die individuellen Charakter, animierende Frische und verführerischen Schmelz in sich vereinen. Auch von den Clayver waren sie schnell so überzeugt, dass heute deren 32 in ihrem Keller stehen. Zwei Weine verkörpern ihren Weg zum Purismus in exemplarischer Weise. Den bei vielen in Ungnade gefallenen Riesling-Sylvaner haben sie mit ihrer Selektion «Schiefer» gänzlich neu erfunden. Über 40-jährige Reben, eine zehntägige Maischegärung in einer Holzbütte von 1862 und der Ausbau in der Tonkugel ergeben einen Cru von faszinierend geradlinigem Temperament. Auch ihren Flaggschiff-Pinot Noir Monolith – einst ein Powerwein mit einem Hauch von «California Dreaming» – haben sie abgespeckt. Die Kraft ist immer noch da, aber eben auch viel Frische. Dass dieses Gewächs spontan und mit einem Teil der Stiele vergoren wird, mag dazu beitragen, «doch was den Wein am stärksten prägt, ist ganz ohne Zweifel der biodynamische Anbau», sagt Christian Obrecht.

Eine weitere Tonkugel der Obrechts steht heute übrigens im Drei-Sterne-Lokal «Schloss Schauenstein» von Andreas Caminada. Darin reifte zuerst ein 2018er Pinot Noir, der dann im Schloss ungeschwefelt abgefüllt wurde. Jetzt ruht ein Completer im Ton, der den «Schauenstein»-Gästen ebenfalls ungeschwefelt kredenzt werden soll. Ist «ungeschwefelt» also der logische nächste Schritt der Obrechts? «Nein», sagt Francisca, «Schauenstein ist eine Ausnahme. Wir mussten das Gebinde nicht weit transportieren und haben den Wein unter Kontrolle. Bei ein paar tausend 0,75-Liter-Flaschen wäre uns das zu risikoreich. Zudem möchten wir nicht das Reifepotenzial unserer Weine gefährden. Der obrechtsche Kompromiss ist eine moderate Schwefelung, alle ihre Weine enthalten heute weniger als 35 Milligramm freien Schwefel pro Liter. Ihre letzte Innovation geht aber in eine ganz andere Richtung. Um dem kapriziösen Completer, der von Jahrgang zu Jahrgang nicht nur in Bezug auf den Ertrag, sondern auch bezüglich Säurewerten und Zuckergradation sehr unterschiedlich ausfällt, mehr Homogenität zu verleihen, wird er ab dem Jahrgang 2020 in einem klassischen Solera-System vinifiziert. Der erste Completer Solera wird die drei Jahrgänge 2020, 2021 und 2022 enthalten, danach sollen alle weiteren Jahrgänge dazukommen.

Das Weingut neu erfunden

Die Obrechts stecken mitten im grössten Abenteuer ihres Winzerlebens. Sie beseelen nämlich gerade ihren im Herbst 2022 fertig gewordenen Kellerneubau. Luftig leicht wirkt der überirdische Teil, und mit den fünf farbig verspielten Fahnen, geschaffen vom Zürcher Künstlerpaar Wiedemann & Mettler, erinnert das Ganze ein wenig an das Basislager einer Everest-Expedition mit den lustig im Wind flatternden Gebetsfahnen. Den Architekten Bearth, Deplazes und Ladner, die auch das Weingut Gantenbein in Fläsch realisiert haben, ist es gelungen, das über Jahrhunderte gewachsene obrechtsche Gebäudepuzzle zu entwirren und neu zu ordnen. Ein architektonisch nicht wertvoller Zweckbau wurde abgerissen. Der klammerartig angeordnete Neubau schafft nun einen grosszügigen Innenhof, eine Schatzinsel, ja im besten Falle einen Archipel der glückseligen Winzer. Dabei ist das von aussen Sichtbare nur die Spitze des Eisberges. Gewaltige 1000 Quadratmeter misst der Hohlraum unter der Insel, in dem die Obrecht-Weine künftig entstehen. Das ästhetische Highlight ist der ansteigende Verbindungstunnel vom neuen zum alten Keller, «Tubus» genannt. Neben dem Laufsteg thronen hier auf Podesten die 32 Tonkugeln: Wein, eingebettet in pure Ästhetik – das Ganze könnte als Installation in einem Kunstmuseum stehen…

«Jetzt dürfen wir spielen, der definitiven Finesse auf den Grund gehen ohne logistische und strukturelle Sachzwänge und Kompromisse», sagt Francisca Obrecht. Nach 16-jähriger Aufbauarbeit müsste sie nun also kommen, die beste Zeit ihres Winzerlebens. Und sie wollen keine Zeit verlieren, denn ewig wird diese neue Periode nicht dauern. «Wir haben mit unseren drei Kindern schon abgemacht, dass wir uns in neun Jahren, also im Jahr 2032, zusammen an den Tisch setzen und besprechen, wie es weitergeht», sagt Francisca Obrecht. Im dunklen Barriquekeller hat der Künstler Daniel Mettler in vier Leuchtrahmen suggestive Traumwelten geschaffen, auch mit Fotos von Christian Obrecht, die er auf Gran Canaria geschossen hat, der Insel, auf der Francisca Obrecht gelebt hat, bis sie 14 Jahre alt war. Sind diese exotischen Leuchtwerke allenfalls ein Hinweis darauf, wo die Reise der Obrechts hingeht, wenn die nächste Generation das Ruder übernommen hat? «Kann sein, aber vielleicht auch nicht. Wir sind offen für vieles, in Jenins und überall in der Welt», sagt Christian Obrecht.

«Reduce to the Max»

Nach spontaner Vergärung reifen die Weissweine in Tonkugeln, die Roten im Holz und kommen mit sehr moderater Schwefelung in die Flaschen. That’s it!

Brut Nature Blanc

17.5 Punkte | 2023 bis 2025

Der Grundwein gärte in der Barrique, und nach der Flaschengärung ruhte dieser Brut Nature rund zwei Jahre auf der Hefe. Zurückhaltende, aber edle Aromatik mit Agrumen und frischen Äpfeln. Ein Anflug von Brioche. Im Gaumen geradlinig, beschwingt und sehr frisch.

Brut Rosé

17.5 Punkte | 2023 bis 2025

Blanc de Noirs aus Pinot Noir, veredelt mit etwas Pinot Meunier (10 Prozent). Intensives Lachsrot. Expressive und schön ausgereifte Aromatik mit roten Beeren, Lagerapfel und anderem Kernobst. Im Gaumen reichhaltig, fruchtbetont und dicht gewoben. Ein perfekter Essensbegleiter.

Riesling Sylvaner Schiefer 2022

18 Punkte | 2023 bis 2027

Was für ein Müller-Thurgau! Die Maischegärung und die Reifung in der Tonkugel verleihen ihm enorm viel Charakter. In der Nase zunächst ein Anflug von Orangenblüten und Kernobst, auch florale und mineralische Noten. Im Gaumen knackig frisch, entwickelt enorm viel Zug. Sehr animierend!

Chardonnay 2021

18 Punkte | 2023 bis 2027

Ein Teil wurde mit Maischegärung im Holzbottich, der andere Teil klassisch in der Barrique ohne Bâtonnage vinifiziert. Sehr subtile und reintönige Aromatik mit Agrumen, einem Anflug von Eiergebäck und edler, an nassen Stein erinnernder Mineralik. Im Gaumen subtil, ja tänzerisch, getragen von einer saftig präsenten Säure.

Trocla Nera 2020

17.5 Punkte | 2023 bis 2027

Aus zugekauften biologisch angebauten Pinot-Trauben im grossen Holzfass vinifiziert. Mehr als ein Zweitwein! Betörende Aromen von roten und blauen Beeren, dezente, perfekt integrierte Würznoten. Auch im Gaumen viel Pinot-Frucht. Hat viel Klasse und Temperament.

Monolith 2021

18.5 Punkte | 2023 bis 2030

Zweifellos hat der biodynamische Anbau dem Monolith stetig mehr Charakter, aber auch Lebendigkeit verliehen. Aromen dunkler Beeren, dazu elegante, florale und ätherische Aromen. Im Gaumen perfekte Balance zwischen Power, beschwingter Fruchtigkeit und samtigem Schmelz. Langanhaltend.

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