Wein & Kultur: Wein Heimat Württemberg 2/2022

Sigrid Ortwein: Gerührt und geschüttelt

Text: Ute Noll, Fotos: Dirk Bleicher, z.V.g.

Sigrid Ortwein hält mit ihrer Sofortbildkamera Begegnungen mit Menschen fest. Von ihr fotografiert zu werden, ist ein experimentelles Ereignis! Ihre Aufnahmen sind schrill, wild und energiegeladen, ebenso wie die Künstlerin selbst.

2016 bis 2018 hatte die Fotografin nächtelang in kleinen Klubs und dunklen Bars gefeiert, getanzt und mit ihrer Leica-Sofortbildkamera Bilder aufgenommen. Vorgestellt hatte sie sich mit ihrem Künstlernamen Frau von Rotwein, den sie sich schon im Studium zugelegt hatte. In den vergangenen Jahren porträtierte sie im Privaten und auf Veranstaltungen Menschen der kreativen Szene, die sie liebevoll ihre Kunst-Kultur-Job-Familien-Bande nennt.

Mit ihrem Werk knüpft Ortwein an die Polaroidfotografie von Andy Warhol an, der in den späten 1970er Jahren das New Yorker Nachtleben, Freunde und befreundete Künstler mit seiner SX-70-Polaroid-Kamera festgehalten hatte. Mit der Zeit entwickelte Sigrid Ortwein jedoch ihren eigenständigen, wiedererkennbaren, unverwechselbaren Stil.

Von Momenten aus dem Leben, von intimer Nähe und expressiven Gefühlen erzählt sie. Nicht nur Freunden und Freundinnen gegenüber traut sie sich so nahezukommen, sondern tut das in der ihr eigenen Art auch mit Unbekannten in Klubs, auf Events oder der Straße. Exzentrisch und offen sucht sie Kontakt zu allen, lässt sich auf die jeweiligen Begegnungen ein. Je nach Szene verfolgt sie dabei auch ihr analoges Soziales-Netzwerk-Konzept.

Spontan regt sie zu Selbstdarstellung und Gruppendynamik an. Nach dem ersten Klick auf den Auslöser dreht Sigrid Ortwein die Kamera, verändert blitzartig die Perspektive, tritt zurück oder geht näher heran, kreist ihr Motiv von vorne ein oder dreht manchmal die Kamera auf den Kopf, erst dann drückt die Künstlerin für die zweite Aufnahme einer Doppelbelichtung auf den Auslöser. Drehen und Schütteln sind Vorgänge, wie man sie vom Champagnerrütteln und Cocktailmixen kennt. Es ist der Methodenmix aus Intuition und Können sowie Spontanität und Zufall, der zu Ortweins überraschenden Bildmotiven mit unverkennbarer Bildsprache führt.

Nach dem zweiten Klick verwandelt sich Ortweins Negativ in wenigen Minuten mithilfe der eingebauten Chemie im Papierträger in ein fertig entwickeltes Positiv. Sie reicht es in der Gruppe herum, die bestaunt und kommentiert es gemeinsam. Genau genommen ist das «Polaroid» seit den späten 1970er Jahren ein «Social-Media-Tool» und damit ein Vorläufer der digitalen Handyfotografie der 2010er Jahre. Auf dem typisch weißen Sofortbild-Rahmen signiert Ortwein mit «©SO», notiert das Datum, hält noch den Ort oder andere Details fest. Die Porträtierten lässt sie am Aufnahmeort ebenfalls signieren. Der spielerische Umgang mit Schriftzeichen und Sprachwitz ist ein prägnantes Stilmittel, auch in ihren anderen Werkgruppen.

Die beschrifteten und bemalten Originale archiviert Sigrid Ortwein in ihrem Sofortbild-Archiv, das die Funktion eines autobiografischen Tagebuchs hat. Über 2000 Sofortbild-Einzel- und Gruppenporträts hat sie nach Ort und Zeit geordnet, diese dann akribisch in hunderte transparente Archivhüllen einsortiert und in Ringbüchern zusammengeführt. Keine einzige Erinnerung an die vielen Begegnungen, Erlebnisse und Geschichten darf darin fehlen. Selbst wenn das Foto nicht gelungen ist, für Ortwein muss die Sammlung vollständig sein! Die Künstlerin folgt dabei ihrer eigenen Logik und entwickelt ihr persönliches Codierungs-, Informations- und Storytelling-System. Gezeigt hat sie die Aufnahmen unter anderem 2019 im Haus der Stadtgeschichte in Offenbach. Derzeit bereitet die Künstlerin den Umzug ihres umfangreichen Archivs nach Leingarten vor, wo sie jetzt schon die elterliche LKW-Garage als ihr Atelier nutzt.