Legendäre Lagen

Hermitage

Text und Bilder: Rolf Bichsel

Hermitage, eine Lage? Ja – und nein. Denn genau genommen besteht dieser legendäre Rebberg, der auf den ersten Blick auch aussieht wie einer, aus mehreren Kleinlagen, die sich geologisch und morphologisch teils beträchtlich voneinander unterscheiden. Allen gemeinsam sind hingegen das besonders windgeschützte, milde Mikroklima und die südliche oder südöstliche Ausrichtung. Genau diese Tatsache erklärt die besondere Komplexität eines der grössten Rebensäfte der Welt. 

Da sass er und war nicht mehr weg-zukriegen. Ein trotziges Stück Granit, von den urgewaltigen urzeitlichen Wasserfluten eines Flusses, der noch nicht wusste, dass er einmal Rhône heissen würde, wie ein Stück Kuchen vom Muttergebirge abgetrennt. Der Fluss, der sich übermütig einen Weg aus den engen Alpen Richtung Freiheit bahnte, die er unten im Süden vermutete, prallte, nachdem er sich eine Passage geschaffen hatte, zwar immer mal wieder gegen den widerspenstigen Klotz, hobelte und schmirgelte und schliff ein paar Kanten rund, liess groben Sand und Geröll von Gneis, Granit und Schiefer liegen. Doch aus dem Weg schaffte er ihn nie ganz. Der Klotz widerstand selbst den eiszeitlichen Gletschern, die sich träge im Schutt suhlten wie Wildschweine im Fenn und so die Sedimente an die Hänge pressten, in die Höhe schoben und zu Terrassen formten. Staubige Sturmwinde prallten von Norden her kommend gegen den Block und liessen erschrocken ihre staubige Beute fallen, die einen Teil des Hügels überpuderte. Löss nennen Geologen diese Ablagerungen aus porösem Kalk. Büsche fanden im Geröll und Sand karge Nahrung, Wälder wuchsen, Laub verfaulte und Fallholz verrottete. Eine dünne Humusschicht bildete sich, die da etwas dicker ausfiel, wo sie nicht vom Regen weggespült werden konnte. Schliesslich tauchte der Mensch auf, legte Wege an, befriedete die natürlichen Terrassen, baute Mäuerchen, um die knappe, kostbare Erde zurückzuhalten, merkte bald einmal, dass Getreide und Gemüse auf dem fetten Schwemmland unten am Fluss besser gedeihen als oben an den sonnigen, manchmal gar feurig heissen, wind- und frostgeschützten, aber kargen Hängen, pflanzte Reben und entdeckte nach und nach, dass einige Fluren des Berges ganz besondere Säfte ergeben, die sich beträchtlich von den einfachen, grob gestrickten Kreszenzen unterscheiden, mit denen man sich gemeinhin den Alltag versauerte. Sie mundeten dem lokalen Adel, der vom aufstrebenden Bürgertum abgelöst wurde, waren bald einmal gesucht und teuer. Die ersten Weinhandelshäuser entstanden in der kleinen Stadt am Fusse des Hügels, verschifften ihre Elixiere über die Rhône ins nahe Lyon und schliesslich über die Saône bis in die Kapitale Paris. 

Im 18. Jahrhundert wurde grosser Wein immer beliebter. Die Schönen und Reichen zögerten nicht, für ein besonderes Fässchen oder eine besondere Flasche ein kleines Vermögen auszugeben. Rebensäfte mit klingenden Namen wurden damals besonders begehrt: Vougeot, Montrachet, La Romanée, Lafite, Latour, Mar­gaux. Bald gehörte auch der mächtige Hermi­tage dazu. 
Zwar hiess der Hügel ja ursprünglich Saint-Christophe. Doch Ermitage, später Hermitage geschrieben, das tönte einfach besser. Der neue Name bürgerte sich rasch ein und sein tieffarbener, besonders bouquetreicher Wein wurde dadurch womöglich noch gesuchter. Bald galt er als König der Weine und Wein der Könige. Und Präsidenten: Thomas Jefferson, der amerikanische Staatsmann, liebte ihn heiss und innig. Und weil ein grosser Wein ohne gute Geschichte nur halb so wertvoll ist, kam der Hermitage im 19. Jahrhundert auch zu einer waschechten Legende (siehe nebenstehende Box). 

 

Kräftig, fein und delikat

André Jullien war ein Tausendsassa in Sachen Wein, Händler, Önologe, geübter Verkoster. 1816 brachte er ein Standardwerk heraus, das einen für die damalige Zeit einmaligen Überblick über die Weine der Welt ermöglichte: die «Topographie aller bekannten Anbaugebiete» («Topographie de tous les vignobles connus»). Den Hermitage beschrieb er sinngemäss so: «Produziert Weine, die zu den besten des Reichs zählen; sie sind kräftig (corsés), fein und delikat, besitzen eine schöne Farbe, viel Saft und ein sehr angenehmes Himbeer-Bouquet.

«Ich denke, die meisten Hermitage werden viel zu früh getrunken. Denn erst nach acht, zehn Jahren Kellerruhe kommt die einmalige Balance von Kraft und Eleganz, von Fülle und Finesse voll zum Ausdruck.»

Yann Chave

Besonders geschätzt sind 1. Méal und Greffien; 2. Bessas, Baume und Raucoulé. Diese Weine sind erst abzufüllen, nachdem sie acht bis zehn Jahre im Fass verbrachten. Sie erlangen besondere Qualität und Delikatesse in der Flasche und können lange gelagert werden. Das Anbaugebiet produziert auch erstklassige Weissweine, sämig (moelleux), alkoholreich (spiritueux), voller Finesse und mit einem charmanten Bouquet; sie können lange gelagert werden und werden mit der Reife ambrafarben.» Jullien verschwieg auch nicht, dass nicht alles vom Hermitage-Hügel stammte, was so geheissen wurde und in Tain auf die Flasche kam. Ursprungsschutz steckte nicht einmal in den Kinderschuhen. Weine aus Hermitage sollen sogar magere Bordeaux aufgebessert haben. Ich kann nur vermuten, dass es sich dabei um Kopien handelte. Das Original war dafür garantiert zu kostbar. Kostbar wie grosse Burgunder, mit denen sie oft verglichen werden, sind Hermitage bis heute. Doch der weniger als 140 Hektar kleine Rebberg ist kein «Climat» nach Burgunder Vorbild, sondern eine Grosslage, eine Gemeindeappellation.

Sein Mikroklima mag einheitlich sein, die Geologie des Hügels ist es allerdings nicht (siehe weiter oben). Bis heute ist ein klassischer Hermitage ein Assemblagewein, ein Verschnitt aus Grundweinen, die auf mehreren, oft weit verstreuten kleinen Parzellen geerntet wurden. Darauf basiert seine besondere Komplexität und letztlich sein Ruf als aussergewöhnlicher Tropfen. Und theoretisch sogar auf mehreren Traubensorten! Natürlich ist Syrah seit langem die einzige zugelassene Rotweintraube in der Appellation. Doch gemäss Dekret kann Rotweinen maximal 15 Prozent Most aus Roussanne und Marsanne beigegeben werden, auch wenn heute kaum jemand solches praktiziert. 
Assemblieren und Ausbauen war und ist die Spezialität der «Négociants-Eleveurs», der «Weinhändler und Erzieher». Die tüchtigsten der in Tain ansässigen Häuser wurden bald einmal selber Rebbesitzer und Winzer und haben bis heute das Sagen am Hermitage-Hügel. Chapoutier, Jaboulet und Delas teilen sich fast die Hälfte der Lage. Gemeinsam mit der 1934 gegründeten Genossenschaftskellerei und dem grössten privaten Abfüller, Jean-Louis Chave, sind es zwei Drittel. Die anderen 20 Abfüller müssen sich mit dem mageren Rest begnügen. Das hat auch Vorteile. Weinfreunde brauchen sich nicht tausend ähnlich klingende Domänennamen zu merken. 
Damit die Sache nicht allzu einfach wird, haben sich die Erzeuger in den letzten 20, 30 Jahren allerdings eine neue Schikane ausgedacht: eine wachsende Zahl an Abfüllungen aus Einzellagen. Exklusive Sondercuvées sind auch im Norden der Rhône in. Ob sie ihren hohen Preis wert sind, muss jeder für sich selber entscheiden. Ich geniesse bis heute mit Vergnügen die letzten noch von Jean-Louis Chaves Vater Gérard komponierten Hermitage, weiss wie rot, der mir vor vielen, vielen Jahren nach einer Verkostung von Grundweinen perfekt die grosse Bandbreite der Hermitage-Stile und damit der Böden illustrierte und mit leiser Stimme, aber erhobenem Zeigefinger predigte: «Wenn du kochst, schmeisst du auch nicht einfach alles, was du gerade eingekauft hast, in einen Topf! Ein Kilo Pilze in 500 Gramm Ragout ist zu viel, selbst wenn es sich dabei um die besten Morcheln handelt. Du wirst nur einen Teil davon verwenden. Genauso halten wir es mit unseren Assemblagen. Wir dosieren selbst den Anteil eines Grundweins aus einer Spitzenlage, sondern aus, stimmen alle Komponenten ab, suchen die optimale Harmonie.» Doch die Zeiten ändern sich. Gerards Pilze (oder ein kleiner Teil davon, damit sie rar und teuer bleiben) werden mittlerweile separat gebraten und angeboten. Das mag in vielen Fällen durchaus Berechtigung haben. Der pure Ausdruck eines Bodens ist eine interessante und spannende Sache. Und doch: Ich kann mich ab und wann des Eindrucks nicht erwehren, solche Cuvées werden in erster Linie für die Weinpresse gemacht und an Verkostungen geöffnet und nur selten bei Tisch. Doch genau da gehört ein Hermitage hin: auf eine gut gedeckte Tafel, wie jeder grosse Wein.

 

Hermitage im Glas

Ein roter Hermitage, idealerweise zehn bis 15, 20 Jahre gereift, gibt sich grosszügig, vollmundig, gut strukturiert, reich und doch nicht zu opulent, komplex und würzig, ohne aufdringlich zu sein, mit erstaunlichen fruchtigen Anklängen, die an gekochte Erdbeeren erinnern mögen. In seiner Jugend ist er mir hingegen zu ausbaugeprägt, zu kantig, zu verschlossen. In der Phase schmecken ein Saint-Joseph oder ein Crozes-Hermitage einfach besser. Das Gleiche gilt für die Weissen. Nur wer die laszive Kraft und Morbidezza alter Weissweine schätzt und die schwer zu beschreibenden, aber nicht weniger betörenden Akzente von Nougat, Haselnuss, Kakao, Honig, Eukalyptus, Kräutertee oder weisser Trüffel, sollte das Abenteuer wagen, weisse Hermitage im Keller zu vergessen. Man mag sie nach acht bis zehn, aber auch mal 20 Jahren einfach so geniessen oder zu einem Stück reifem Hartkäse, einer saftigen Poularde mit Morcheln oder einer würzigen Hasenterrine.  

Domaine des Tourettes 2015  

Maison Delas

2022 bis 2030

Superbe, mineralisch-würzig-fruchtige Aromatik; verbindet präzise Machart, samtene Fülle und tragende Struktur zu einem überlegenen Ganzen, langes Finale auf den Noten der Nase; grosser Wein mit Persönlichkeit, den man unbedingt reifen lassen sollte. 

Preis: ca. 60 Euro

Hermitage 2015

Yann Chave

2022 bis 2035

Wirkt noch sehr jugendlich, öffnet sich nur langsam, doch die Aromatik ist ungemein komplex. Im Mund von grosser, mächtiger Fülle und Dichte, aber mit Tanninen allererster Güte, von besonderem Schliff, mit ausnehmend langem, fruchtig-würzigen Finale. Unbedingt reifen lassen. 

Preis: ca. 80 Euro 

Hermitage Grand Classic 2015

Cave de Tain

2020 bis 2028

Ziel der Linie Grand Classique: ein Terroir so getreu wie möglich wiederzugeben, um auch dem Novizen den Einstieg in die komplexe Welt der Lagen zu ermöglichen. Dem Hermitage 2015 gelingt dies perfekt: Vollmundig, fruchtig, mit Schliff und Würze kann er bereits genossen werden und doch noch reifen.

Preis: ca. 40 Euro

Ab mit Dampf!

Wein ist nicht alles! Rund um Tain l’Hermitage sind Sehenswürdigkeiten und Schlemmertempel Legion. Hier unsere ganz persönlichen Tipps. 

Eisenbahnparadies 
Seit 120 Jahren führt eine metrische Eisenbahnlinie von Tournon (Gare nouvelle de Tournon, Saint-Jean de Muzols) durch die Schluchten des Doux nach Lamastre (trainardeche.fr). Zwei Dampflokomotiven halten diesen Dienst weiter aufrecht (im Winter beschränkt). Die romantische Reise durch ein fast unberührtes Paradies dauert hin und zurück vier Stunden. In der Hauptsaison erlauben «Soirées du Sommelier» gar eine Verkostung von Rhôneweinen an Bord. Ein absolutes Erlebnis!!! 

Pöstlerpalast 
Der Palais idéal des Briefträgers Cheval (www.facteurcheval.com), einmaliges Beispiel naiver Kunst, liegt nur 30 Kilometer von Tain entfernt. Der Abstecher lohnt sich. Nils Tavernier hat dem eifrigen Bauern einen Film gewidmet, der eben in die Kinos kommt. 

Schlemmerhotel
Wer unbedingt in Tain absteigen will, wird sich wohl oder übel für das Hotel «Le Pavillon de l’Hermitage» entscheiden. Meine Lieblingsadresse ist die sehr professionell geführte Hôtellerie «Beau-Rivage» 
(www.hotel-beaurivage.com) in Condrieu, rund 50 Kilometer von Tain entfernt. Sicheres Parken, gediegene Zimmer, gute Küche, ruhige Lage am Rhône-Ufer, korrekt im Preis.

Spitzenküche
«Vineum» (nur mittags) und «Le Quai» sind ideal, um ohne viel Schnickschnack gut und bodenständig direkt in Tain zu speisen. Wer es gediegener haben will, hat schon fast die Qual der Wahl: In Pont-de-l’Isère zelebriert Altmeister Michel Chabran sowohl elitäre Sterneküche (La Grande Table) als auch kreative Bistro-Küche (L’Espace Gourmand), und in Valence schwingt Drei-Sterne-Küchenfee Anne-Sophie Pic (www.anne-sophie-pic.com) gekonnt die Kelle.

Schokoladenwelt
Tain besitzt gleich zwei Grands Crus: den Hermitage – und die Valrhona-Schokolade. Cité du Chocolat (www.citeduchocolat.com) bietet den interessierten Besuchern einen «interaktiven und schmackhaften» Parcours quer durch die Welt der Spitzenschokolade, und das grosse Angebot in der Boutique lässt das Herz jedes Schokoladefans im Dreivierteltakt schlagen. 

Tain für Touristen
Tain-l’Hermitage, verstaubte Brückenstadt an der ominösen, ewig verstopften Nationalstrasse 7, eingezwängt zwischen dem Hermitage-Hügel und der Rhône, galt noch vor kurzem nicht eben als begehrtes Reiseziel, im Gegensatz zum pittoreskeren Tournon mit Altstadt und Schloss am anderen Rhône-Ufer, das erst noch den besten Blick auf den legendären Hermitage-Hügel erlaubt. Doch das ändert sich drastisch. Die Stadtverwaltung unterstützt tatkräftig die Idee, aus Tain das Weintourismuszentrum der nördlichen Rhône zu machen, und die Händler und Winzer ziehen mit. Jaboulets «Vineum» (vineum.blogspot.com) an der zentralen Place du Taurobole, Weinbar, Boutique und Brasserie in einem, ist bereits zur Institution geworden. Das Gleiche gilt für den Tasting Room von Michel Chapoutier (www.chapoutier.com), der ganz oben am Berg mitten in den Reben auch ein Gästezimmer anbietet (www.chapoutier-gites.com). Ein paar Schritte von Jaboulet entfernt liegt der Weinshop der Familie Perrin. Unten an der Rhône hat Sternekoch Michel Chabran eine Brasserie eröffnet («Le Quai»), und bald wird auch Delas mitten im Herzen von Tain (am früheren Sitz der Jaboulet) seine postmoderne Kellerei beziehen und Weinfreunde aus aller Welt empfangen können. Tain ist folglich heute durchaus eine Reise wert – oder zumindest eine Stippvisite. 

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