Zwei junge Winzer setzen qualitativ starke Akzente. Zudem erlebt der Vordere Stadtberg gerade eine nachhaltige Wiedergeburt

Eglisau, eine Rhein-Perle mit legendären Weinlagen

Text: Thomas Vaterlaus, Foto: gettyimages/AleksandarGeorgiev, Siffert/weinweltfotos.ch, z.V.g.

Ist das kleine Eglisau im Kanton Zürich womöglich das schönste Weinstädtchen am «Väterchen Rhein» überhaupt? Gut möglich! Zwar thronen am deutschen Abschnitt des wichtigsten Wein-Kultur-Flusses nördlich der Alpen so weltberühmte Weinorte wie Nierstein (Rheinhessen), Rüdesheim (Rheingau) oder Bacharach (Mittelrhein), doch sie haben einen Makel: Die Rebberge und die mittelalterlichen Stadtkerne sind vom Rhein abgetrennt durch vielbefahrene Strassen und Bahnstrecken. In Eglisau dagegen bilden der hier überraschend mächtig wirkende, weil gestaute Rhein, das direkt bis zum Fluss reichende Städtchen und der wohlproportionierte Rebberg dahinter ein idyllisches Ganzes der besonderen Art. Schade ist nur: Noch nicht mal in der lediglich 30 Fahrminuten entfernt liegenden Stadt Zürich haben das bis heute alle Weinfreaks gemerkt. Für ein Wein-Weekend fahren viele lieber ins Piemont, ins Elsass oder nach Graubünden. Dabei bietet Eglisau alles für ein sinnlich ganzheitliches Weinerlebnis. Vom Wanderpfad durch die Reben aus hat man das Städtchen und den nahen Rhein stets im Blick. Und im altehrwürdigen Gasthof «Hirschen» mit seinen schiefen Holzböden, den beschwingt-barocken Dekorationsmalereien und den sorgsam restaurierten Zimmern mit Blick auf den Fluss fühlen sich Gäste bestens aufgehoben. Das sah wohl auch schon Johann Wolfgang von Goethe so. Der vielreisende Vorgänger der heutigen Travel-Blogger ass hier nämlich am 26. Oktober 1797 von 12 Uhr bis um 13.30 Uhr zu Mittag, und protokollierte dies in seinem Tagebuch fast schon pedantisch exakt. Und obwohl nicht ausdrücklich vermerkt, blickte er vom Tisch aus wohl auf den still dahinfliessenden Rhein, vielleicht gar in Gesellschaft eines hiesigen Rebensaftes.

Es gibt Reblagen, deren Qualitätspotential sich dem Betrachter schon beim ersten Anblick offenbart. Und der insgesamt ungefähr 13 Hektar umfassende Eglisauer Stadtberg ist zweifelsfrei ein solcher Grand Cru. Es ist eine Steillage, geprägt von kalkhaltigem Sandstein mit hohem Quarzanteil. Zudem findet sich in den unteren und mittleren Lagen auch Lehm und in den höheren Bereichen Nagelfluh. Es sind poröse, eher leichte Böden, in denen Regenwasser rasch abzieht und die sich schnell erwärmen. Zusammen mit dem überaus milden Klima, beeinflusst von dem sich hier fast zu einem See ausdehnenden Rhein als Wärmespeicher und Reflektionsfläche, herrschen hier während der Vegetationszeit fast mediterrane Verhältnisse. Der Eglisauer Stadtberg teilt sich in den rund 3,6 Hektar grossen Vorderen Stadtberg mit südlicher und leicht südwestlicher Ausrichtung, der in einer fast monolithisch einheitlichen Form hinter dem Zentrum des Städtchens thront. Der in östlicher Richtung direkt daran anschliessende, rund neun Hektar umfassende Hintere Stadtberg zeigt sich topografisch weniger einheitlich. Kleine Einschnitte, Kuppen und Wäldchen sorgen dafür, dass in den verschiedenen Parzellen durchaus ein unterschiedliches Mikroklima festzustellen ist.

Bald zu warm für Pinot Noir?

Mit einem Anteil von über 50 Prozent ist der Pinot Noir ganz klar die Hauptsorte in Eglisau. Die kalkhaltigen Böden sind zugeschnitten auf die Sorte. Es ist vor allem der heute 65-jährige Winzer Urs Pircher, der über fast 40 Jahrgänge hinweg mit seinem Topwein, dem Pinot Noir Stadtberg (heute Pinot Noir Sélection Stadtberg) bewiesen hat, dass die Lage zu den grossen Blauburgunder-Terroirs der Schweiz gehört und Weine von einer eigenständigen Typizität hervorbringt. Lange Zeit liess sich der Top-Pinot von Pircher stilistisch zwischen den subtil-kernigen Gewächsen, wie sie etwa am Ottenberg im thurgauischen Weinfelden reifen, und den etwas vollmundigeren Crus in der Bündner Herrschaft einstufen, doch die Klimaerwärmung hat diese Hierarchie mehr und mehr durcheinandergebracht. Noch gehören die Eglisauer Winzer zu den Gewinnern dieser Entwicklung: «Waren in den 80er Jahren hier noch sieben von zehn Jahrgängen eher eine Spur zu kühl und deren drei ideal, so sind heute sieben von zehn Jahrgänge ideal und deren drei eher zu warm», sagt Urs Pircher. Vor allem der 38-jährige Mathias Bechtel, der sich in den letzten fünf Jahren als zweiter Topwinzer in Eglisau etabliert hat, profitiert von dieser Entwicklung, strebt er doch vollmundig ausdrucksstarke Weine an, denen es aber trotz ihrer Fülle nicht an Eleganz und Struktur fehlt. Der 29-jährige Gianmarco Ofner dagegen, der kürzlich den Betrieb seines «Göttis» Urs Pircher übernommen hat, ist Verfechter eines etwas geradlinigeren, filigraneren Stils und muss heute einige Kniffs anwenden, um gerade beim Pinot die gewünschte Stilistik in die Flaschen zu bringen. So selektioniert er im Keller die Trauben aus den etwas schattigeren, kühleren Parzellen und baut die Weine auch separat aus, um sie dann dem Topwein, dem Pinot Noir Sélection Stadtberg, gezielt beizufügen. Während der Pinot Noir seine führende Stellung in Eglisau behalten hat, ist bei den weissen Sorten eine Verlagerung festzustellen. So hat der Riesling-Silvaner an Bedeutung verloren, Räuschling, Chardonnay, Pinot Gris und Rheinriesling sind im Aufwind. Besonders Räuschling und Riesling zeigen sich in den wärmsten Parzellen des Stadtbergs, wo es dem Pinot Noir allmählich zu heiss wird, als vielversprechende Alternativen.

Dass die Römer schon Wein im Eglisauer Stadtberg angebaut haben, ist zu vermuten, aber nicht belegt. Wenn man sich aber vor Augen hält, wo die Römer in der Schweiz überall Wein produziert haben, ist es schwer vorstellbar, dass sie eine solche Toplage ungenutzt liessen. Die erste urkundliche Erwähnung des Weinbaus im Hinteren Stadtberg stammt aus dem Jahr 891. Auch auf den ältesten Ansichten von Eglisau sind bereits ausgedehnte Rebberge hinter dem Städtchen zu sehen, so auch auf einem Holzschnitt aus dem Jahre 1547. Mitte des 19. Jahrhundert sollen annähernd 300 Rebbergsbesitzer eine Fläche von fast 90 Hektar bewirtschaftet haben. Weinbau wurde damals im Nebenerwerb betrieben oder aber als Teil der damaligen bäuerlichen Mischwirtschaft. Die Haupteinnahmequelle des Städtchens war aber das Schiffereigewerbe auf dem Rhein, vor allem der Transport von Salz und Holz. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebten 48 Schiffer im Städtchen. Auch wenn 1886 die Reblaus einfiel und dem Weinbau schwer zusetzte, so hatte sich die Kunde vom Eglisauer Blauburgunder schon verbreitet. «Wir sind der Meinung, unser Eglisauer könnte einen Ruf haben wie der Wein aus den besten Lagen des Kantons», schrieb etwa 1887 ein gewisser Pfarrer A. Wild. Aufzeichnungen aus den folgenden Jahrzehnten zeigen, dass der Weinbau einem klimatischen Roulette-Spiel geglichen hat. War es im Herbst 1947 mit Zuckergehalten von über 90 Öchsle so heiss, dass die Ernte jeweils um elf Uhr eingestellt werden musste, konnten im Problemjahr 1968 die Pinot-Noir-Trauben lediglich mit 70,88 Öchsle gelesen werden.

Der Stadtberg wird nachhaltig!

Heute erlebt der Eglisauer Weinbau seine beste Zeit «ever», und das nicht nur in qualitativer Hinsicht. Denn gegenwärtig findet am Vorderen Stadtberg die erste Rebbergsmelioration im Kanton Zürich seit 30 Jahren statt. 3,6 Hektar Reben werden bei diesem Projekt, für das zwölf Winzer eine entsprechende Genossenschaft gegründet haben, restrukturiert. Sechs Jahre, von 2013 bis 2019, dauerte die aufwendige Planungsphase, deren Kosten - wie auch die Kosten für das ganze Projekt - nicht nur von den Eigentümern, sondern auch von der Gemeinde, dem Kanton und dem Bund getragen wurden. Seit 2019 wird der Weinberg nun neu angelegt. Die Arbeiten sollen spätestens 2023 abgeschlossen sein. Doch schon jetzt lässt sich sagen, dass sich der immense Aufwand lohnt. Denn was am Vorderen Stadtberg allmählich Gestalt annimmt, ist die erste Melioration in der Deutschschweiz, bei der ökologisch-nachhaltige Aspekte mindestens so stark gewichtet worden sind wie betriebswirtschaftliche Anliegen. So werden über zehn Prozent des bisherigen Rebberges zu ökologischen Ausgleichsflächen mit maximaler Biodiversität umgewandelt. Eine zentrale Rolle spielt dabei eine rund 600 Meter lange Wildblumenböschung, die sich durch den ganzen Rebberg zieht und die auf einer Aussaat von bis zu 50 Arten basiert. Ebenso wichtig ist die neu in den Rebberg integrierte Magerwiese mit Sandflächen für Wildbienen und Pflanzen, eingesenkten Steinhaufen für Reptilien sowie Strauchgruppen mit Feldulme, Pfaffenhütchen, Liguster, Schwarzdorn, Rosen, Gemeinem Schneeball und Felsenbirne. Das Ziel ist ein Weinbau in einem nachhaltigen, sich möglichst selbst regelnden Ökosystem, das weitgehend ohne synthetischen Pflanzenschutz auskommen soll. So ist das innovative Projekt auch eine Bereicherung für das Städtchen, seine Einwohner und die Besucher, die über zwei öffentliche Treppen mitverfolgen können, was hier so alles «kreucht und fleucht». Und noch in einer anderen Hinsicht entwickeln sich die Dinge im Weinstädtchen Eglisau höchst erfreulich: Seit dem Kellerneubau von Mathias Bechtel verfügt er zusammen mit Gianmarco Ofner vom Weingut Pircher über genügend Kapazitäten, um alle Trauben, die in Eglisau reifen zu vinifizieren und abzufüllen. Und genau das ist ihr Ziel. Verschwanden früher viele Eglisauer Trauben in anonymen Assemblagen mit Erntegut aus verschiedenen Zürcher Gemeinden, so soll nun Eglisau pur in die Flaschen kommen, mit der entsprechenden Ursprungsangabe. «Wir müssen diesen Weg gehen, wenn wir Eglisau als Weinstädtchen voranbringen wollen», sagt Mathias Bechtel. Seit kurzem vinifizieren die beiden die gesamte Ernte der hiesigen Weinbaugenossenschaft, wobei Mathias Bechtel die Weissweine in die Flaschen bringt, während sich Gianmarco um die roten Sorten kümmert. Mit anderen Worten: Über 90 Prozent der Eglisauer Trauben werden heute wieder in Eglisau gekeltert und kommen mit der Ursprungsbezeichnung Eglisau in die Flasche. Der positive Virus einer nachhaltigen Wein-Begeisterung ist überall zu spüren im gut 5000 Einwohner zählenden Städtchen. Es geht voran in diesem Paradies am Rhein!


Facts & Figures zum Grand Cru am Rhein

Seitenblick: Alles «Vivi» oder was?

Eglisau ist nicht nur dank seiner vorzüglichen Weine bekannt, sondern auch wegen seiner Süssgetränke Vivi Kola und Orangina. Den Grundstein dazu legte der deutsche Salzpionier Carl Christian Friedrich Glenk. Dieser wollte ab 1823 in Eglisau Salz fördern, doch nachdem die entsprechende Bohrung nur leicht salziges Mineralwasser zutage förderte, wurde diese ab 1879 zum Betrieb des Kurhauses Mineralbad Eglisau benutzt, das kurzzeitig gar Gäste aus dem Ausland anzog, jedoch fünf Jahre später wieder schliessen musste. Ab 1924 wurde das salzhaltige Mineralwasser in Flaschen abgefüllt. Weil sich dieses nur schleppend verkaufte, lancierte die Mineralquelle Eglisau AG aromatisierte Süssgetränke wie Eglisana (Zitrone), Orangina (Orange) und schliesslich ab 1938 auch Vivi Kola – das Cola-«Wundergetränk aus Eglisau». Doch obwohl schweizweit bekannt, konnten sich die drei Kultdrinks langfristig nicht gegen die Power der Marktleader durchsetzen. 1986 wurde die Produktion in Eglisau eingestellt. Doch 2010 gab es ein Happy End. Der in Eglisau geborene Werber Christian Forrer kann die Markenrechte von Vivi Kola übernehmen und macht daraus ein kultiges Trendgetränk, das heute in mehr als 2500 Bars und Restaurants wieder angeboten wird. Aber am besten schmeckt es selbstverständlich in der «Vivi Kola Bar» in Eglisau direkt am Rhein.

www.vivikola.ch 
www.vivikolabar.ch 


Wo Reben bis zum Wasser reichen...

Wann genau im Eglisauer Stadtberg die ersten Rebstöcke gepflanzt worden sind, ist nicht bekannt. Sicher ist: In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, dies beweist dieser Holzschnitt um das Jahr 1547, war der Hang hinter dem Städtchen dicht mit Rebstöcken besetzt. Im Gegensatz zum heutigen Drahtzug wurde damals jeder Rebstock einzeln mit einem Stock gestützt.


Reifeunterschiede

Wegen dem nach Süden ausgerichteten Steilhang, den der Rhein in Eglisau geformt hat, sowie der vergleichsweise grossen Wasserfläche (infolge des Flusskraftwerks Eglisau-Glattfelden) gilt Eglisau als bevorzugte warme Lage. Da sich hier zudem kaum Kaltluft-Seen bilden, ist die Frostgefahr im Frühling geringer als anderswo im Kanton Zürich. Trotzdem sind die Reifeunterschiede von Jahr zu Jahr heute wesentlich geringer als noch vor einem halben Jahrhundert.

70,88 Grad Öchsle
118 Grad Öchsle

70,88 Grad Öchsle
war die Durchschnittsreife bei den roten Sorten im Jahr 1968 – aufgrund des Zuckergehaltes der schlechteste Jahrgang in den vergangenen 50 Jahren.

118 Grad Öchsle
erreichten die Blauburgunder-Trauben im Hitzejahr 2018 – der höchste Zuckerwert in den vergangenen 50 Jahren.


Traubensorten

50% Pinot Noir
40% Spezialitäten
9% Räuschling

Der Sortenspiegel in Eglisau ist im Wandel. Während der Pinot Noir mit einem Anteil von 50 Prozent seine führende Stellung behält, spielt der ehemals wichtige Riesling-Silvaner mit einem Anteil von nur mehr einem Prozent fast keine Rolle mehr. Im Aufschwung sind die Spezialitäten. Vor allem Räuschling, Rheinriesling und Pinot Gris haben in Eglisau ein sehr gutes Qualitätspotential.


Produktion

12 Hektar Stadtberg total
3 Weingüter
ca. 75 000 Flaschen / Jahr

Während ganz Eglisau über eine Rebfläche von rund 15 Hektar verfügt, entfallen auf den Stadtberg rund zwölf Hektar, wobei der Vordere Stadtberg (beim Städtchen) mit einer Fläche von 3,6 Hektar wesentlich kleiner ist als der Hintere Stadtberg mit seinen etwas mehr als acht Hektar.

 


Preisspanne

Von ca. 14 Franken
bis ca. 40 Franken

Obwohl einige Weine, besonders die Top-Pinots, in den letzten Jahren leicht teurer geworden sind, verfügen die Eglisauer Crus über ein vorzügliches Verhältnis zwischen Qualität und Preis. So liegen fast alle Spitzenweine noch immer unter der 30-Franken-Schallmauer. Und auch die Pinot-Selektionen sind im Vergleich zu den Crus in der Bündner Herrschaft moderat im Preis.

Von ca. 14 Franken für Riesling-Silvaner und Federweisser bis ca. 40 Franken für Pinot-Noir-Selektionen.

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