Unendliches Entdeckungspotenzial

Wein-Schätze der Rhône

Die Rhône ist der französische Weinfluss par excellence. Auf seinem Weg aus den Alpen ins Mittelmeer hat er nicht nur bekannte Lagen wie Hermitage aus dem Fels gehauen (Bild), sondern mit Hilfe von Nebenflüssen wie Drôme oder Ardèche auch die Hänge und Hochebenen zahlreicher weniger bekannter Anbaugebiete geformt. Ihnen ist dieses Dossier gewidmet.

«S het grägnet i de Bärge, mir hei ändlech chönne ga» (Es regnete in den Bergen, wir konnten endlich gehen), sang Berner Mundartrocker Polo Hofer 1976 in seiner herrlichen Ballade «D’Rosmarie u I» (Rosmarie und ich). Genau dieser Song dröhnte aus dem Autolautsprecher, als ich in Genf als Beifahrer zum ersten Mal die Rhône überquerte und über die Nationalstrasse Richtung Süden tuckerte, im kanariengelben 2CV natürlich und mit Schlafsack, Freundin und «ein paar Fränkli» im Handgepäck. Lederstiefel kaufte ich auch, wie der Polo in seinem Song, trug sie, bis sie mir buchstäblich in Fetzen von den Füssen fielen, und den Ring, um den ich in Saint-Marie mit einem Strassenhändler feilschte (der Preis stimmte dann, doch ich musste den Verkäufer daraufhin mit seiner gesamten Clique, die er gut versteckt hielt, zum Kaffee einladen, was mich teurer zu stehen kam, als wenn ich den ursprünglichen Preis akzeptiert hätte), kriege ich nie mehr vom Finger.

Irgendwie muss die Rhône selber dieses Lied gesummt, geröchelt und gebrummt haben, als sie sich mühsam durch das enge Wallis quälte, im Vorbeifliessen schon mal einen See füllte, über die Ufer trat und sich einen Weg nach Süden bahnte, weg aus dem Alpengefängnis, sich erst mal im Westen verirrte, den Umweg über Lyon in Kauf nahm, sich dort mit der Saône einliess, Äonen später als immer breiter werdender Strom bei Tain-l’Hermitage einen Felsen rund schliff, bevor ihr der Durchbruch gelang und sie endlich echten Südwind atmen konnte. Das Geschiebe, das sie mit sich führte, liess sie auf dem Weg ins Mittelmeer vergnügt mäandernd links und rechts liegen und schuf so die Terroirs, in denen heute Reben, Obstbäume, wilde Kräuter und zivilisierte Gemüse wachsen.

«Es gibt unendlich viel zu entdecken entlang der Rhône, die seit Jahrhunderten als Transportweg Nord und Süd verbindet.»

Vom Weg abgekommen bin auch ich. Blieb zwar im Süden, doch wurde ebenfalls nach Westen abgedrängt, bin in Bordeaux hängen geblieben. Darum fahre ich heute meist stromaufwärts den Fluss entlang. Gutturale Berner Mundart ist mir schon fast zur Fremdsprache geworden, die ich nur mehr selten radebreche. Muss mich mit geschliffenem Französisch durchs Leben schlagen. Doch jedes Mal wenn ich, von Zürich oder Bern her kommend, den Rückweg nach Hause antrete, befällt mich, der ich dafür doch eigentlich nur Verachtung übrig habe, spätestens im Lavaux ein krummes Gefühl von Nostalgie. «S het grägnet i de Bärge, mir hei ändlech chönne ga», quietscht der Scheibenwischer im Takt der Autobahnbetonzäune. Zwischen Genf und Vienne pendelt der Tachometer gefährlich an der Punkteweggrenze, auf die Bremse trete ich nie. Das flaue Gefühl in der Magengegend lässt erst nach, wenn ich Tain-l’Hermitage hinter mir habe. 

Nord-Süd-Gefälle

Mag sein, dass ich zu den Weinen der nördlichen Rhône aus diesem Grund eine gewisse Distanz bewahre. Intellektuell bewundere ich sie, doch das Herz macht nicht so recht mit dabei. Condrieu, Côte-Rôtie oder Hermitage tische ich nur selten auf, trotz ordentlich gefüllten Kellerregalen. Cornas oder Saint-Peray schon eher, vielleicht weil die schon etwas weiter im Süden liegen. Um ein gutes Gewissen zu haben, rede ich mir ein, dass der Norden der Rhône nur einen verschwindend kleinen Teil des nach dem Fluss benannten Anbaugebietes abdeckt, dass sie auch ohne mich reissend Absatz finden, dass es so viel zu entdecken gibt im Reich des silbernen Flusses. Das ist nicht zu bestreiten. Fast 68 000 Hektar zählt der «Vignoble de la Vallée du Rhône». Irgendwo habe ich gelesen, dass dies etwa 70 000 Fussballplätzen entspreche, auch wenn ich mir darunter wenig vorstellen kann. Die Jahresproduktion liegt bei rund 350 Millionen Flaschen. Auch diese Zahl ist schwer nachvollziehbar. Versuchen wir es trotzdem: Um sie zu verputzen, müssten die rund sieben Millionen erwachsenen Schweizer jede Sekunde eineinhalb Flasche Rhônewein killen – und es blieben sogar noch welche übrig.

Nur wenige der 31 Anbaugebiete haben Weltruf. Neben den oben erwähnten auch etwa Châteauneuf-du-Pape oder Gigondas. Andere erringen langsam, aber sicher einen Platz an der Sonne – Crozes Hermitage oder Saint-Joseph im Norden, Luberon, Ventoux, Vacqueyras oder Beaumes-de-Venise im Süden. Wieder andere werden völlig verkannt – Lirac, Costières de Nimes, Clairette de Bellegarde – oder sind ausserhalb ihrer Heimat fast gänzlich unbekannt: Wer hat schon mal etwas von Chatillôn-en-Diois gehört?

Einzig die Flut an Namen, die über uns neugierige Weinfreunde schwappt, mindert etwas die Freude an der Entdeckerwut. Dörfer wie Vinsobres oder Cairanne sind zu unabhängigen Crus geworden, Séguret, Sablet, Chusclan oder Uchaux bleiben vorläufig Côtes du Rhône Villages. Das mag uns Kopfschmerzen bereiten, im echten wie im übertragenen Sinn, doch was Weinqualität und Stil anbelangt, ist dagegen wenig einzuwenden. 

Denn gerade die verkannten Gebiete haben sich in den letzten Jahren enorm weiterentwickelt. Die Duché d’Uzès etwa oder die Côtes de Vivarais. Was früher ein Handicap war – ein etwas langsamerer Reifeprozess – ist zum Vorteil geworden: Gerade Weine aus diesen Anbauzonen zeigen oft besondere Frische und Saftigkeit, was sie zum Tafelwein (im besten Sinn des Wortes) echt prädestiniert. Sie besitzen ferner ein Preis-Spass-Verhältnis, des seinesgleichen sucht. Naturnaher Anbau ist kein Fremdwort: Im eben erwähnten Uzès wenden bereits zwei Drittel aller Betriebe mehr oder weniger ganzheitliche Anbaumethoden an.

Es lohnt sich wirklich, an der Rhône Schatzgräber zu spielen. Das etwa ab Vienne immer breiter werdende Tal, das sich längs des Zentralmassivs von den Alpen bis zum Mittelmeer erstreckt, ist besonders reich an Landschaften, pittoresken Orten und anderen Sehenswürdigkeiten. Grosse und mittelgrosse Städte wie Lyon, die französische Fresskapitale, die auch kulturell einiges zu bieten hat, Avignon mit seinen Theaterfestspielwochen, Vienne mit seinem Jazzfestival oder Arles mit seinen der Fotografie gewidmeten «Rencontres» sind ebenso eine Reise wert wie die vielen kleinen Dörfer: Saint-Montan im Vivarais, das buchstäblich an der Bergwand klebt, La Garde-Adhémar, das hoch oben auf seinem Felsen über das Rhônetal zu wachen scheint, Pontaix an der Drôme, wo alle Uhren rückwärts gehen.

Auch hier kann ich nur dazu raten, ausgetretene Pfade links liegen zu lassen und Entdeckungen auf eigene Faust zu machen. Viele der wenig bekannten Weine, die ich begeistert mit Freunden teile, die zuerst die Nase rümpfen, weil kein bekannter Name auf dem Etikett thront, habe ich entdeckt, weil ich aufs Geratewohl und ohne mein Tablet zu konsultieren an eine Kellertür geklopft habe, als simpler Tourist, nicht als professioneller Alkoholiker; weil ich im Dorfbistro einfach, aber gut gegessen und dazu den Wein ausgesucht habe, den ich garantiert nicht kannte. Geht das mal daneben, ist das auch nicht tragisch: Die paar lumpigen Euro verschmerze ich allemal, und schliesslich ist das Leben ein einziges Abenteuer. Darum: Wenn es regnet in den Bergen, ist die Richtung vorgegeben – der Rhône entlang auf Umwegen ab in den Süden.